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Politik: Die Wiederkehr der Erinnerung

17. JUNI

Von Hermann Rudolph

Es gibt sie noch, die Zeugen, und es sind viel mehr als gedacht. Sie erinnern daran, dass es das alles tatsächlich gegeben hat, was die längst zu Ikonen der Nachkriegsgeschichte gewordenen historischen Fotos zeigen – die Demonstranten mit den Haartollen und flatternden Nachkriegsanzügen, das Herunterreißen der roten Fahne vom Brandenburger Tor, den jungen Mann im Krankenbett, dem der Bundeskanzler die Hand drückt. Es bestätigt die Wirklichkeit dieses Tages, über die Zeiten hinweg – und dazu die Fülle von Berichten, von Fernsehfilmen, von Büchern. Das alles hat der Erinnerung an den 17. Juni zu dessen fünfzigstem Jahrestag eine Unmittelbarkeit gegeben, die man diesem Tag, ehrlich gesagt, nicht mehr zugetraut hätte. Ein halbes Jahrhundert nach dem Aufstand ist uns – so scheint es, erstaunlicherweise – dieses Ereignis unserer Geschichte näher als je in den Jahrzehnten zuvor.

Aber ist es wirklich nur die gewaltige MedienOffensive, die das zustande gebracht hat? Es spielt auch eine Rolle, dass heute vieles nicht mehr an diesem Tag haftet, was ihn früher belastete – der Streit der Parteien, unterschiedliche Interpretationen, die Peinlichkeit, im Westen ein Ereignis zu feiern, das in den Osten gehörte, während dieser nur zusehen konnte. Die Geschichte selbst, das Ende der deutschen Teilung, hat es weggeräumt. Und das ist wohl auch der Grund dafür, dass es, vielleicht, ein Bedürfnis gibt, das es so vorher noch nicht gab: dass das wieder vereinte Deutschland nach einer Vergangenheit sucht, an der es Halt und Beispiel findet.

Dabei hat sich das Bild des 17. Juni durch die Nachforschungen, die nach dem Untergang der DDR möglich wurden, zwar vertieft, aber nicht grundsätzlich verändert. Wir wissen heute, dass der Aufstand mehr Menschen erfasste als früher angenommen, dass er nicht nur Berlin erschütterte, sondern nahezu die gesamte DDR, dass die sozialen Forderungen rasch in politische übergingen. Doch gewachsen ist das Bewusstsein für die Bedeutung, die emotional besetzte Symbole, stützende Überlieferungen und kollektive Erfahrungen für eine Gesellschaft, ihren Zusammenhalt und ihre politische Kultur haben. Viel davon haben wir da, zugegeben, nicht. Der 17. Juni gehört dazu.

Denn dass er ein großer Augenblick in unserer Geschichte war, steht außer Zweifel. An ihm haben Deutsche – und sei es nur für ein paar Tage, ja, Stunden – den aufrechten Gang gewagt. Das macht den Aufstand der Ost-Deutschen zum Exempel für ein Deutschland, das es auch gibt: für Deutsche, die nicht Mitläufer sind, die nicht schweigen, die sich nicht nach der Decke strecken, sondern Zivilcourage zeigen, Risiken auf sich nehmen und Freiheit und Demokratie einfordern. Damit steht der 17. Juni neben den anderen ermutigenden Daten der deutschen Geschichte, neben 1848 oder dem 20. Juli 1944 oder der Wende 1989.

Dabei darf die Wiederkehr der Erinnerung an den 17. Juni nicht vergessen lassen, dass er ein ambivalentes Datum ist. Der Aufstand weckte die Hoffnung, dass die Nachkriegsgeschichte einen anderen, freiheitlicheren Weg einschlagen könnte. Und zugleich begrub seine Niederschlagung diese Hoffnungen, auf unabsehbare Dauer. Aber er war eben doch das erste Zeichen für die Ablehnung von Unfreiheit und Reglementierung, also für den Willen zu Freiheit und Demokratie, die dann für gut zwei Generationen von Diktatur und Anpassung unten gehalten wurden, bis sie sich 1989 endlich doch Bahn brachen – dank Gorbatschow, dank der Dissidenten im Ostblock, dank der Leipziger Demonstranten und auch jener Politik der kleinen Schritte, die den Kommunismus matt verhandelte.

Dass ein Tag wie der 17. Juni wiedergewonnen werden kann: Das wäre, bei der bekannten Gemütslage der Deutschen, selbst ein ermutigendes Zeichen.

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