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Versteckt sich: Angela Merkel (CDU).

© AFP

Die Woche nach der Bundestagswahl: Wer weiß, was Merkel macht?

Die FDP versenkt, die Grünen enthauptet, die SPD in die Verzweiflung gestürzt: Angela Merkel hat ganze Arbeit geleistet. Dann ist sie verschwunden. Protokoll einer verrückten politischen Woche.

Am Ende dieser Woche die Frage: Was macht eigentlich Angela Merkel? Sie hat für die Union Rekorde eingestellt, die seit Adenauers Zeiten bestanden. Sie hat die FDP versenkt, das verbogene Silberlöffelchen im bundesrepublikanischen Traditionsbesteck. Sie hat die Grünen zur Selbstenthauptung geführt. Und sie treibt die SPD zur Verzweiflung. Ein politisches Beben nach einem Wahlkampf, von dem viele meinten, er sei der langweiligste ihres Lebens gewesen.

Doch von Angela Merkel keine Spur. Nur ihre ruhenden Hände sind noch zu sehen am Ende dieser irren Woche, auf einem Poster am Hauptbahnhof in nordkoreanischer Größe: zwanzig Meter hoch, siebzig Meter breit. Bevor sie verschwand, sagte sie noch: Das kann ja nicht nur an mir gelegen haben! Danach brach das große Durcheinander aus, auch in ihrer Partei. Was hat sie da bloß angerichtet?

Sonnabend, 21. September. Wahlkampfabschluss der CDU im Tempodrom. Merkel witzelt sich mit Anekdoten zu ihrer Frisur über die Zeit. Mensch Merkel. In den Wochen zuvor hatte sie einige Geheimnisse offenbart, die ihrer Biografenmeute entgangen waren. Das Unvernünftigste, was sie als Jugendliche je getan hat? „Zu viel Kirschwein getrunken.“ Worüber sich ihr Mann beschwert? „Zu wenig Streusel auf dem Kuchen.“ Neben ihr kriegen sich Generalsekretär Hermann Gröhe und ein sehr aufgeknöpfter Frank Henkel kaum ein vor angestrengtem Lachen.

Aber die Laune ist besser als die Lage: Die Meinungsforschungsinstitute orakeln eine Pattsituation herbei, Koalition und Opposition gleichauf. Merkel sagt: „Wenn wir Steuererhöhungen machen, dann besteht die Gefahr, dass wir nicht mehr Steuereinnahmen haben, sondern weniger, und dass wir nicht mehr Arbeitsplätze haben, sondern weniger. Und diesen Weg wird die Union nicht gehen.“ So ähnlich steht es auch im Wahlprogramm, so klang es bei ihr schon zuvor: „Ich sage ein klares Nein zu Steuererhöhungen.“

Sonntag, 22. September. In der CDU-Zentrale an der Klingelhöferstraße kapert die adrenalingeflutete Parteijugend eine Hymne der Toten Hosen, Punkveteranen mit Konservatismusallergie, die früher Korruption auf Union gereimt haben. „An Tagen wie diesen wünscht man sich Unendlichkeit, an Tagen wie diesen haben wir noch ewig Zeit. In dieser Nacht der Nächte, die uns so viel verspricht, erleben wir das Beste, kein Ende ist in Sicht.“

Volker Kauder singt mit, die anderen klatschen, Merkel mittendrin. Kein Ende in Sicht? Wie wahr. Aber anders als gedacht. Später, in der Berliner Runde, ein erster Hinweis von Merkel: „Vielleicht findet sich ja gar keiner, der mit uns was machen möchte“, sagt sie kokett. Da ist schon klar: Die FDP ist weg, kurz darauf auch die absolute Mehrheit.

Das wird noch ungemütlich, und ein Ende ist nicht in Sicht. Peer Steinbrück, der weiß, dass sein höchstes Amt das des Aufsichtsratsmitglieds von Borussia Dortmund bleibt, analysiert die Situation: „Der Ball liegt im Spielfeld von Angela Merkel.“ Im Klartext: Er hat umgeschaltet auf Verteidigung. Manuela Schwesig, stellvertretende SPD-Vorsitzende, gefällt das. Nur leider versteht sie nichts von Fußball oder nichts von Politik. Später am Abend wird sie sagen: „Der Ball liegt im Tor von Frau Merkel.“

Montag, 23. September. Es tagen die Gremien, es gibt Statements für die Medien, das Bla vom Vortag wird zum Blub. Johannes Kahrs, SPD-Abgeordneter aus Hamburg, sagt, seine Partei werde sich nicht von Frau Merkel kaputtmachen lassen wie die FDP, jetzt sollten mal die anderen staatsbürgerliche Verantwortung zeigen. Er habe mit Schwarz-Grün jedenfalls sehr gute Erfahrungen gemacht. Eine Anspielung auf die Bürgerschaft in Hamburg, nach zwei Jahren einer solchen Koalition erreichte die SPD dort die absolute Mehrheit. Hannelore Kraft sagt: Opposition ist keine Schande.

In der CDU sickert die Erkenntnis durch, wie wenig wert ihr gutes Ergebnis ist. So nahe an einer Alleinregierung war die Union ewig nicht mehr. So viele Direktmandate gab’s nur in den fünfziger Jahren. Aus der Regierung heraus das Ergebnis zu steigern, das gelang zuletzt ’65. Der Osten, die Frauen, die Jungwähler – alles in der Hand der Union. Aber die Opposition liegt ein paar Sitze vorne.

Philipp Rösler und Rainer Brüderle werden nur noch von hinten gezeigt. Es ist der Abgang kriegerischer Rhetoriker einer kriecherischen Partei. Christian Lindner gibt’s von vorne. Er will die Partei künftig führen – wohin? Gibt es noch eine sozialliberale Chance für die FDP? Oder soll sie versuchen, sich nationale Wähler von der AfD zu holen?

Claudia Roth kündigt ihren Rückzug als Parteichefin der Grünen an. Das Echo ist klar zu hören auf den grünen Wiesen im Abstimmungstal: Und du? Und du? Und du? Aber die anderen antworten nicht. Noch nicht.

Merkel gibt bekannt, sie habe am Morgen Probleme mit der Garderobe gehabt. Rot? Geht nicht. Grün? Auch nicht. Blau? War gestern. Eine Stunde mehr Schlaf, sagt sie, hätte nicht geschadet.

Dienstag, 24. September. Campino, Sänger der Toten Hosen, veröffentlicht eine Erklärung zur feindlichen Übernahme von „An Tagen wie diesen ...“: „Wir verfolgen aus dem Proberaum amüsiert die Kontroverse über die CDU-Version. Uns kam die Darbietung eher vor wie ein Autounfall: nicht schön, aber man schaut trotzdem hin. Denn eines ist ja wohl klar: Das grausam vorgetragene Lied war immer noch mit Abstand die beste Leistung, die die CDU in letzter Zeit hervorgebracht hat!“ Das Amüsement wirkt gequält, die Toten Hosen erleben gerade einen echten Shitstorm. Müsste Merkel dazu etwas sagen, dann wäre das wahrscheinlich wieder: Das kann ja nicht nur an mir gelegen haben!

Der Kabarettist Florian Schröder nennt die AfD bei Radioeins „Nazis für Besserverdienende“. Henrik M. Broder, der am Sonntag auf der Wahlparty der „Alternative“ für die TV-Show von Benjamin von Stuckrad-Barre junge Frauen suchen sollte, fragt Schröder, ob der ihn auch für einen Nazi halte, weil er AfD gewählt habe.

Jürgen Trittin und Renate Künast treten als Fraktionsvorsitzende zurück, Katrin Göring-Eckart will Fraktionsvorsitzende werden. Bei den Grünen grummelt’s gewaltig. Göring-Eckart, Spitzenkandidatin neben Trittin, sollte bürgerliche Wähler begeistern, stattdessen gab sie die Sozialarbeiterin. Trittin wollte als Finanzfachmann brillieren, aber am Ende hatten fünfzig Prozent der Wähler das Gefühl, sie gehörten zu den zehn Prozent Reichen, die Trittin schröpfen wollte, und die zehn Prozent der armen Wähler, die Göring-Eckart erreichen wollte, hatten nicht mitbekommen, dass Wahltag ist. Ein klarer Fall von falscher Steuererklärung. An die SPD haben die Grünen über eine halbe Million Wähler verloren, an die CDU mehr als vierhunderttausend. Folgen einer Kernschmelze.

Weiß wer, was Merkel macht? Sie verbringt den Tag fernab vom aufgeregten Gesumse in ihrem Büro, heißt es, internationale Telefonate.

Mittwoch, 25. September. Guido Westerwelle ist auf Abschiedstournee in New York. Mit seiner Dekadenz-Anklage gegen die Nassauer der Republik begann die Legislaturperiode, und sie endete mit einer so aufdringlichen Bettelei seiner Nachfolger Rösler und Brüderle um Zweitstimmen, dass es jedem „Motz“-Verkäufer zu würdelos wäre. Die Großsprecher des Leistungseinkommens fordern in eigener Sache Mitleid als Mittellose. Das Volk gibt ihnen ihre nassforsche Antwort zurück: Geht arbeiten!

In der Union beginnt langsam die Katerstimmung. Nie zuvor hatte sie so massiv um Zweitstimmen gebeten. Jetzt wird von einem taktischen Fehler gesprochen. 0,2 Prozent mehr für die FDP, und Merkel hätte kommod weiterregieren können. Daraus wird nun nichts. Und es kommt noch schlimmer: Der „Zeit“ ist es gelungen, Funken zu schlagen aus einem klammen Interview mit dem Bundesfinanzminister. Auf die Frage: „Schließen Sie Steuererhöhungen grundsätzlich aus?“ antwortet Wolfgang Schäuble: „Nochmals: Wir sollten jetzt schauen, wie die Gespräche laufen. Wir werden Koalitionsverhandlungen nicht über die Öffentlichkeit führen. Ich persönlich bin der Meinung, dass der Staat keine zusätzliche Einnahmequelle benötigt.“ In der Nachrichtenfassung zieht die Redaktion den Schluss: „Damit geht Schäuble auf SPD und Grüne zu, die sich im Wahlkampf für höhere Steuern ausgesprochen haben.“ Die „Zeit“ ist gedruckt, ausgeliefert wird sie am nächsten Morgen. Erste Meldungen machen die Runde. Es knistert, aber noch brennt nichts an.

Auch am Tag drei nach der Wahl sitzt Angela Merkel in ihrem Büro. Sie wühlt sich durch Aktenberge. Es ist viel liegen geblieben in den vergangenen Wochen.

Donnerstag, 26. September. Jetzt ist bei der Union richtig Feuer unterm Dach. Schäubles Interview hat „Wumm!“ gemacht. Zitiert wird nun auch Armin Laschet, Vorsitzender der CDU in Nordrhein-Westfalen: „Natürlich werden wir in allen Themen kompromissbereit sein müssen. Sonst kriegen wir keine Koalition hin.“ Und die „Bild“ berichtet von „Geheimplänen“ der CDU: „Jetzt doch Steuern rauf?“ Statt zu antworten wie Steinbrück mit seiner „Hätte, hätte, Fahrradkette“, also zum Beispiel mit „Wäre, könnte, Zeitungsente“, empören sich die eben noch stolzen Unionisten jetzt übereinander. Auch Horst Seehofer sondert eine seiner täglichen Stördepeschen aus Bayern ab. Ein schwaches Stück, alles in allem. Am Ende von Verhandlungen Teile des eigenen Programms in einem Kompromiss preiszugeben, kommt vor. Das vorher zu tun, offenbart Nervosität.

Am Abend trifft sich die Public-Relations-Gemeinde beim Kommunikationskongress am Alexanderplatz zur Abschlussdiskussion: „Eine Nachbetrachtung der Deutschlandwahl“. Frank Stauss, der Wahlkampfkampagnen gemacht hat für Schröder 2005, für Steinbrück in Nordrhein-Westfalen, dreimal für Wowereit, für Scholz, Beck, Kraft und Steinmeier 2009, sagt: Die SPD hat die Wahl im Sommer 2012 verloren, nicht im Herbst 2013. Die Partei war nicht vorbereitet auf den Kandidaten. Der Kandidat wiederum konnte so das Momentum nicht nutzen: Statt um Wähler zu werben, warb er um die eigene Partei. Was war noch gleich der Job von Frau Nahles? Peter Radunski, Wahlkampfveteran der CDU, ätzt: Niemals hätte er Steinbrücks Interviewpassagen zu Kanzlergehalt und Frauenbonus durchgehen lassen, und schon gar nicht ein Foto mit Mittelfinger. Rudi Hoogvliet, Regierungssprecher von Winfried Kretschmann in Stuttgart, sagt zum Auftritt der Grünen: Im Wahlkampf ein neues Thema zu spielen, das funktioniert eben nicht.

Angela Merkel kann sich heute leider nicht weiter um die liegen gebliebenen Akten kümmern. Sie telefoniert mit ihren Leuten, wegen der Steuersache.

Freitag, 27. September. Zwischen Reichpietschufer und Potsdamer Platz steht auf dem Mittelstreifen noch immer ein Plakat der „Partei“ des Satirikers Martin Sonneborn. Ein energischer Vater mit abwehrender Hand ist darauf zu sehen, dazu der Spruch: „Grüne! Finger weg von unseren Kindern!“ Ein Zahnarzt in Mitte sagt: Ich habe diesmal die Grünen gewählt. Aus Mitleid.

Am frühen Morgen werden bei Sat 1 als Jux neue Aufgaben für diejenigen gesucht, die das Nachwahlbeben nicht überstanden haben. Weil gleich ein Bewohner des Big-Brother-Containers in die Sendung kommt, ein schlecht gelaunter Boxer, wird an den Auftritt Westerwelles in einer der frühen Staffeln erinnert. 13 Jahre ist das her und nicht vergessen bis heute. Pech klebt. Generalsekretär war er da noch. Jetzt ist es aus und vorbei. Sendeschluss für den Sendungsbewussten, mit 51, Fortsetzung der politischen Karriere allenfalls möglich in der außerparlamentarischen Opposition.

Die SPD-Spitze will mit der Union „sondieren“. Was sonst? Was die Wahl gezeigt hat: Es ist eine Lebenslüge der Sozialdemokratie, gründend auf dem Ergebnis von 2009, dass sie in einer Koalition mit Merkel eben wegen dieser Koalition Schaden nimmt. Das schafft die SPD auch allein. Am Abend erklärt Peer Steinbrück, Ego-Shooter in einer Partei, für die „Das Wir entscheidet“, dass es das für ihn war. Zurück ans Schachbrett, ein Buch schreiben, raus aus der Hölle Politik. Soll sich Andrea Nahles weiter mit dem Absingen schräger Lieder zur Witzfigur machen, ihn geht das nichts mehr an. Ein bisschen Pathos gibt’s noch: Solange er auf den Beinen stehe, sagt der Peer, werde er seiner Partei dankbar sein.

Der Flurfunk im Kanzleramt meldet: Alles ruhig. Merkel erledigt ein paar Akten, nimmt ihren Podcast auf, und dann: Wochenende. Hier ist heute früh Feierabend.

Samstag, 28. September. Der Länderrat der Grünen tagt. Trittin sagt: „Ich bin auch ein bisschen verantwortlich. Nein, ich bin verantwortlich.“ Was für eine Quälerei. Trittin hat einen weiteren Schuldigen gefunden, ein „Element“, dem jetzt der Parteiausschluss droht: „Von diesem Element, dass wir die Bevölkerung schurigeln wollen, müssen wir uns entfernen.“ Man merkt: Da geht’s jetzt um die Wurst. Cem Özdemir kündigt an, die Grünen würden „ernsthafte Gespräche“ mit der Union führen, wenn Angela Merkel anruft. Falls sie anruft. Wenn sie denn weiß, wen sie anrufen kann. Aber, immerhin: Die wollen also doch was mit ihr machen, alle beide, Grüne und SPD.

Angela Merkel ist endgültig verschwunden. Keiner weiß was, und wer was weiß, sagt nichts. Vielleicht ist sie in der Uckermark. Vielleicht ist sie zu Hause. Vielleicht bekommt ihr Mann eine Extraportion Streusel auf den Kuchen. Vielleicht nimmt sie einen Schluck Kirschwein, einen klitzekleinen. Der Ball liegt ruhig im Mittelkreis.

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