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Die Würde des Menschen: Das glücklichste Geschöpf

Der Mensch kann Enthauptungen und Kriege – er kann aber auch ganz anders: Es ist Zeit für einen neuen Idealismus. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Anna Sauerbrey

Ich habe Pico zufällig getroffen. Es war warm, draußen murmelte ein Kleinstadtsommernachmittag. Das Baby ist neben mir auf dem Bett eingeschlafen. Ich betrachte noch einen Moment das rasche Heben und Senken seines Brustkorbs, das Nuckeln. Dann schleiche ich mich zu meinem Bücherstapel im Nebenraum. Ich habe einen Artikel zugesagt für ein Internetlexikon über Frauen in der Reformationszeit, ich soll über Caritas Pirckheimer schreiben, eine Nürnberger Äbtissin, die aus einer bekannten Humanistenfamilie stammt. Aber ich bin schläfrig und habe Schwierigkeiten, mich zu konzentrieren. Ich blättere in einem Text über ihren Bruder, Willibald Pirckheimer, lese über seine Verbindungen nach Italien, erfahre, dass er mit Gianfrancesco Pico della Mirandola Briefe getauscht hat, dem Neffen des 1494 verstorbenen Renaissance- Philosophen Giovanni Pico della Mirandola, und denke, Pico, Pico, was hat der gleich …, ich habe noch nie etwas von Pico gelesen. Ich googele, finde auf der Webseite eines amerikanischen Informatikers eine englische Übersetzung der „Oratio de hominis dignitate“, der „Rede über die Würde des Menschen“, und beginne zu lesen.

Warum ist uns Picos Idealismus so fern?

Ein großes Wunder ist der Mensch. Ausgehend von diesem antiken Gedankenschnipsel entwirft Pico auf den ersten Seiten seiner „Oratio“ ein prächtiges Gemälde vom Menschen. Gott, schreibt er, schuf den Menschen, um eine Kreatur zu haben, die die Größe und Bedeutung seiner Schöpfung verstehen könne. Die Natur aller anderen Wesen ist beschränkt, den Menschen aber schuf Gott als freien Gestalter seiner selbst. Ausgestattet mit einem freien Willen, der Fähigkeit zur Erkenntnis und der Begabung, seinem Sein eine beliebige Form zu geben, sei der Mensch das glücklichste Geschöpf auf Erden, zu Recht bewundert von allen anderen Geschöpfen. Der Mensch versetze die ganze Welt, ja das ganze Universum in ungläubiges Staunen, er erfülle die Seele mit Bewunderung, ja er sei nur wenig geringer als die Engel. Dann knistert das Babyfon. Ich klappe den Laptop zu.

Nach dieser ersten kurzen Begegnung im Sommer habe ich oft an Pico denken müssen. Seine Begeisterung für den Menschen war mir nah und fern zugleich. Es war, als stünde ich vor einer Vitrine im Museum der Geisteshaltungen. Das Ausstellungsstück war schön, von bewundernswerter Handwerkskunst, von historischer Bedeutung. Und doch blieb es museal. Warum eigentlich? Warum fällt es uns heute so schwer, Picos Idealismus in Bezug auf den Menschen zu teilen? Darauf gibt es eine konkrete und eine etwas abstraktere Antwort.

Einmal habe ich an Pico denken müssen, als ich morgens diese Zeitung aufschlug und ein Bild der Fotografin Katharina Eglau sah. Es ist eines der Bilder, die sich mir in diesem Jahr am stärksten eingeprägt haben. Es zeigt einen Platz in Riad, der nach einer Enthauptung gereinigt wird. Die Fotografin hält Distanz zum Geschehen. Im Vordergrund durchschreiten zwei Männer die Leere des Platzes, der Wagen mit dem Wassertank, die in traditionelle saudische Gewänder gekleideten Menschen mit dem Schlauch, die Lache, all das ist weit in den Hintergrund gerückt und wirkt wie zufällig aufgenommen. Dennoch dachte ich: so viel Blut.

In Saudi-Arabien, schrieb unser Korrespondent Martin Gehlen in seiner Reportage, sind Hinrichtungen mit dem Krummschwert an der Tagesordnung, bis August dieses Jahres waren es 60. Er beschrieb eine Enthauptung, bei der er anwesend war. Ich habe mir nie eines der Videos angesehen, die der IS von den Enthauptungen seiner Geiseln ins Internet gestellt hat. Aber jedes Mal, wenn es wieder geschah, musste ich an das Bild aus Saudi-Arabien und an diese Reportage denken – und auch an Pico. Picos glücklichstes Geschöpf auf Erden, es ist so verwundbar. Picos vom Universum bewunderter Mensch, er hat sich in diesem Jahr vor allem durch unfassbare Grausamkeiten hervorgetan.

Die Welt ist in Unordnung, der Mensch eine Bestie

In solchen Momenten erschien mir Picos Idealismus besonders realitätsfern. Die Abendnachrichten verbreiteten apokalyptische Gefühle. Die Kämpfer des „Islamischen Staates“ rückten bis an die Grenze zur Türkei vor, Al-Qaida-Terroristen töteten im Wettstreit der Grausamkeiten mehr als 140 Schüler und Lehrer in Peschawar, Putin griff nach Teilen der Ukraine, im Nahen Osten eskalierte erneut die Gewalt, von Syrien ist nichts mehr übrig, mehr als 50 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht, 3419 von ihnen starben 2014 bei dem Versuch, das Mittelmeer in Richtung Europa zu überqueren. Und wenn gerade niemand live oder auf Video starb, erinnerte irgendwer irgendwo bildgewaltig an den Ersten Weltkrieg. Die Welt, so konnte man meinen, ist in Unordnung, der Mensch eine Bestie.

Die Desillusionierung des Menschen mit sich selbst beginnt und endet natürlich nicht 2014. Vielleicht hat sie überhaupt weniger mit all dem vergangenen und anhaltenden Morden und Sterben zu tun, das die Medien bestimmt und die Oberfläche des menschlichen Bewusstseins rasch einnimmt (und schon mit „The Voice of Germany“ wieder verlässt), als vielmehr mit einem langfristigen Wandel der menschlichen Identität. Das ist die abstrakte Antwort auf die Frage, warum der humanistische Idealismus heute so museal wirkt: Beinahe täglich erleidet der Mensch neue Kränkungen, die sein Selbstbild erschüttern.

Nehmen wir nur die Meisen. Forscher der Universität Oxford brachten einzelnen Meisen bei, wie man ein Futterhäuschen öffnet, und setzten die Tiere dann in einer wilden Population aus. Innerhalb weniger Wochen verbreiteten die Vögel ihr Know-how in der ganzen Gruppe. Und nicht nur das. Es gab bei dem Experiment mehrere Wege, das Häuschen zu öffnen. Vögel, die den Weg A erlernt hatten, passten sich der Tradition B an, wenn man sie später in eine neue „Gesellschaft“ versetzte, in der die Tradition B dominierte. Sie ergaben sich sozusagen dem sozialen Druck. In der in diesem Jahr veröffentlichten Studie interpretieren die Wissenschaftler das so: Die tierische Kommunikation und auch ihr Sozialleben sind weit komplexer, als man früher glaubte. Tiere entwickeln Traditionen, die sie innerhalb ihrer Population weitergeben. Kultur darf also nicht mehr als Alleinstellungsmerkmale des Menschen gelten.

Oder nehmen wir Eugene. Eugene ist ein Computerprogramm. Es bestand in diesem Jahr den sogenannten Turing-Test. Der 1954 gestorbene britische Mathematiker Alan Turing hatte dargelegt, dass künstliche Intelligenz als nachgewiesen gelten kann, wenn ein Computer es schafft, einen menschlichen Gesprächspartner davon zu überzeugen, dass er ebenfalls ein Mensch sei. Das Gespräch wird mittels Tastatur und Bildschirm geführt. „Eugene“ gab bei dem Turing-Test an der University of Reading vor, ein 13-jähriger Junge zu sein. 33 Prozent der Probanden glaubten, mit einem Menschen zu kommunizieren. Vielleicht müssen wir uns also damit abfinden, dass wir auf dieser Welt nicht mehr die einzigen sind, die „intelligent“ sind.

Die drei Kränkungen des Menschen

Der freie Wille, die Lernfähigkeit, die Fähigkeit, Gesellschaften zu bilden, Moral, Kreativität und Kommunikation mittels Sprache. Eins ums andere bröckeln die vermeintlichen Alleinstellungsmerkmale des Menschen, ein ums andere Mal erleiden wir, um mit Freud zu sprechen, eine narzisstische Kränkung. Freud stellte diese Diagnose schon 1917 und nannte drei Facetten: Erstens, die kosmologische Kränkung. Im Zuge astronomischer Forschung musste der Mensch erkennen, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums ist, dass sie vielmehr viel kleiner als die Sonne ist und diese umkreist. Zweitens, die biologische Kränkung. Seit Darwin weiß die Menschheit, dass sie vom Tier abstammt, die besondere Stellung, die sich der Mensch als göttliches Geschöpf in Abgrenzung vom Tier zudachte, ist also nichtig. Drittens, die psychologische Kränkung. Die Erkenntnisse der Psychoanalyse, so Freud, hätten ergeben, dass der freie Wille eine Illusion ist. Der Mensch ist nicht „Herr im eigenen Haus“, das Bewusstsein oder der freie Wille kann „das Gewirre von Impulsen“ in seinem Inneren nicht bändigen.

Freuds Liste von Kränkungen wurde seither auf vielfältige Art und Weise erweitert, von der Hirnforschung, von der Biologie und von den Computerwissenschaften. Die Verunsicherung ist mittlerweile so groß, dass der Mensch von seinem Alleinherrschaftsanspruch abrückt. In den USA versucht das „Non Human Rights Project“, Bürgerrechte für Menschenaffen einzuklagen (wenn auch bisher mit mäßigem Erfolg, den Richtern fehlt offenbar noch die nötige Demut). Gleichzeitig wird an Moralprogrammen für Roboter und Computern geforscht. Das suggeriert einerseits, dass Maschinen inzwischen so autonom handeln, dass sie Moral nötig haben. Und heißt das nicht auch, dass Moral nur ein weiterer Algorithmus unter vielen ist – und eben auch keine außergewöhnliche menschliche Fähigkeit?

Ein großes Wunder ist der Mensch. Dieser Schnipsel aus Picos „Oratio“ hallt in meinem Kopf wider, als ich das Baby vom Bett hochhebe und auf den Wickeltisch lege. Darüber hängt ein Mobile. Am liebsten mag das Baby die Biene. Das gezielte Greifen fällt ihm noch schwer, seine Arme rudern mal rechts, mal links vorbei, aber er gibt nicht auf, er will die Biene berühren. Immer wieder streckt er die Hand aus, ein intensives, unbedingtes Wollen liegt in dieser Bewegung und irgendwann sind die Finger tatsächlich genau an der richtigen Stelle, er streift einen der Flügel aus Stoff, die Biene gondelt hin und her und das Baby lacht.

In diesen Momenten ist mir Picos Idealismus ganz nah. Die Nachrichten von der neuen Barbarei, von Flucht, Vertreibung und Epidemien, sie berühren mich seit der Geburt unseres Sohnes immer weniger. Die Apokalypse auf dem Bildschirm, sie hat wenig mit meinem Alltag zu tun. Egal, was die Menschheit macht. Der kleine Mensch, er versetzt mich in Staunen.

Der Mensch ist ein „Chamäleon“ der Möglichkeiten

Wenn ich etwas Zeit habe, blättere ich in der Sekundärliteratur zu Pico im Internet. Ich lerne, dass Picos humanistischer Idealismus strenggenommen eine Konstruktion der Nachwelt ist, vielleicht sogar eine Missdeutung. Den Kantianern gefiel die Lobpreisung des freien Willens, das passte gut zu ihrem eigenen Bild vom Menschen: vom sich selbst und seine Umwelt frei gestaltenden Menschen. Indem man Pico zu einem frühen Manifest dieser Philosophie machte, konnte man die eigenen Wurzeln tief in die Renaissance schlagen. In Wahrheit war Pico viel weniger aufgeklärt als den späteren Philosophengenerationen, die ihn verehrten, lieb sein konnte. Aus Sicht von Pico, der sich intensiv mit der jüdischen Zahlenmystik beschäftigt hat, sollte der Mensch seinen Willen und seine Wandelbarkeit vor allem dazu nutzen, sich aus seiner Körperlichkeit, aus den irdischen Zwängen zu befreien. Er sollte sich von sich selbst lossagen und eins werden mit Gott, in mystischer und damit ziemlich vernunft- und weltferner Vereinigung.

Wie man Pico liest, welche Teile man hervorhebt, welche unterschlägt, beruht letztlich auf einer Haltung. Und auch, welches Menschenbild man hat, beruht nur zum Teil auf Beobachtung oder gar Wissenschaftlichkeit. Für unsere Haltung zu uns selbst ist es letztlich egal, wie viele Meisen wir beobachten oder wie häufig wir unsere Köpfe in den Computertomografen stecken oder wie schlau wir Computer machen, um uns selbst auszutricksen. Es ist viel Ideologie dabei. Wer den Menschen für eine Maschine oder eine Bestie hält, wird dafür viel Bestätigung in der Welt finden. Wer ihn für frei hält, ebenso.

Das Gute ebenso wie das Besorgniserregende ist: Beides, Haltung und Beobachtung, bedingen sich gegenseitig. Wenn sich aber der desillusionierte, gekränkte Mensch nichts mehr zutraut, wenn er sich als Automaten oder als Tier versteht, sich für so simpel wie die Meise und gerade noch so eloquent wie „Eugene“ hält, dann kann er tatsächlich nichts mehr ändern, weder sich selbst noch die Welt.

Als Gott den Menschen schuf, schreibt Pico, setzte er in ihn die Saat zu allen Formen des Lebens. Der Mensch kann Tier, kann Pflanze, kann himmlisches Geschöpf sein. Er ist ein „Chamäleon“ der Möglichkeiten. Lasst Ehrgeiz unsere Seelen erobern, schreibt Pico, lasst uns, der Mittelmäßigkeit überdrüssig, die höchsten Dinge anstreben.

Vielleicht braucht es einen neuen Idealismus. Um einen Ausgang zu finden: aus der selbstverschuldeten Alternativlosigkeit.

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