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Joachim Gauck

© dpa

Dieter Graumann: "Ein Besuch der Nationalelf in Auschwitz bewirkt mehr als tausend Gedenkreden"

Der Vorsitzende Dieter Graumann spricht über Joachim Gauck, die deutsche Erinnerungskultur und die Gefahr durch den Iran.

Herr Graumann, aller Voraussicht nach wird mit Joachim Gauck heute ein ehemaliger Pfarrer zum Bundespräsidenten gewählt. Als Staatsoberhaupt im Gespräch war auch der ehemalige EKD-Ratspräsident Wolfgang Huber. Sind gläubige Menschen die besseren Politiker?

Juden antworten gerne mit einer Gegenfrage: Sind Politiker vielleicht sogar noch bessere Gläubige? Mir persönlich gibt mein Glaube Struktur, Kraft und einen moralischen Kompass. Das bedeutet aber nun gewiss nicht, dass nicht-religiöse Menschen keinen moralischen Kompass haben oder schlechtere Politiker sind.

Sie haben dem zurückgetretenen Bundespräsidenten Christian Wulff für seine Arbeit gedankt, auch weil er sich für die Integration eingesetzt und den Satz gesagt hat: Der Islam gehört zu Deutschland. Er war auch der erste Bundespräsident, der in Auschwitz gesprochen hat. Was erwarten Sie von seinem Nachfolger?

Ich hoffe, dass er genau daran anknüpft. Er wird mit Sicherheit frischen Wind in die Politik bringen und soll als moralische Instanz unsere facettenreiche Gesellschaft zusammenführen und zusammenhalten.

Nach der Aufdeckung der Neonazi-Terrorgruppe haben Sie sich mit den Muslimen in Deutschland solidarisiert. Fühlen Sie sich von diesen ähnlich unterstützt?

Der Zentralrat setzt sich schon lange für Menschen ein, die ausgegrenzt werden, auch gerade für Muslime. Ignatz Bubis ist Anfang der 90er Jahre nach den ausländerfeindlichen Anschlägen nach Mölln, Rostock, Hoyerswerda gefahren – zu einem Zeitpunkt, als sich deutsche Politiker dort noch nicht blicken ließen. Auch heute engagieren wir uns immer. Aber: In den muslimischen Gemeinden gibt es leider gerade bei jungen Menschen heute Antisemitismus, der auch immer stärker und lauter wird. Wir wünschen uns sehr, dass dagegen mehr getan wird.

Erleben Sie persönlich Antisemitismus?

Fast nie. Natürlich bekomme ich ab und zu Briefe, und in bestimmten Internet-Debatten geht es manchmal sehr heftig zu, aber die tue ich mir selten an. Wer darauf wartet, mich so einzuschüchtern, der wird lange warten.

Dabei geht es wahrscheinlich häufig um Israel – wenn wie derzeit über einen Angriff auf den Iran diskutiert wird …

Sobald wir uns zu Israel äußern, werden wir gerade in den Blogs besonders aggressiv kritisiert. Mit den Menschen in Israel verbindet uns immer viel. Je stärker in Israel das Gefühl der Bedrohung ist, desto stärker ist hier das Gefühl der Verbundenheit. Und wenn der Iran droht, Israel zu vernichten und dabei ist, sich die Mittel dazu zu verschaffen, nehmen wir das sehr ernst.

Tut die Bundesregierung genug dagegen?

Israel hat in Europa keinen stärkeren Freund als Deutschland. Und das Engagement der Kanzlerin ist hier über jeden Zweifel erhaben.

Der Historiker Michael Wolffsohn beklagt, dass die Verbundenheit der Deutschen mit Israel immer ein Elite-Projekt gewesen sei. Teilen Sie seine Meinung?

Das ist mir doch zu einseitig. Israel rangiert zwar in Umfragen oft unter den am wenigsten beliebten Ländern. Zum Glück hat Israel im Bundestag aber viel mehr Freunde. Wir sollten auch nicht die vielfältigen menschlichen Beziehungen vergessen. Der Jugendaustausch ist seit Jahren intensiv. Und Berlin ist sogar für immer mehr israelische Künstler inzwischen „Kult“ geworden.

Wolffsohn argumentiert, die Deutschen hätten aus dem Zweiten Weltkrieg gelernt: Nie mehr Täter sein. Die Lektion für Israel und die Juden war: Nie wieder Opfer.

Pazifistische Deutsche, die alles auf dem Verhandlungsweg lösen wollen, sind mir allemal lieber als Hurra-Patrioten. Juden aber wollen nie wieder Opfer sein. Diese Lehre arbeitet und tobt ins uns weiter. Wir haben erfahren: Wer droht, uns vernichten zu wollen, wird seine Drohung wahr machen, sofern er die Mittel dazu bekommt. Das ist unsere Geschichte. Wir werden dafür sorgen, dass es bestimmt nicht unsere Zukunft wird.

Wie verändert sich die Rolle des Zentralrats, wenn die Generation der Holocaust- Überlebenden nicht mehr da ist?

Auch dann werden wir den Holocaust ganz sicher nicht vergessen. Aber die Trauer sollte uns nicht beherrschen. Deshalb wollen wir das Judentum künftig moderner, frischer und vor allem positiver positionieren. Wir wollen nicht nur die Stimme zu jüdischen Themen sein, sondern die jüdische Stimme zu allen wichtigen Themen.

Was heißt das konkret?

Der Bundestag hat gerade einer Verdopplung der finanziellen Zuwendungen an den Zentralrat zugestimmt. Wir bekommen jetzt zehn Millionen Euro. Das ist ein Erfolg, auf den ich sehr stolz bin. Denn: Damit will ich den neuen Zentralrat aufbauen und ihn zum jüdischen Kompetenzzentrum machen.

Gibt es intellektuellen Nachwuchs dafür?

Zum Glück haben wir durch unsere neuen Mitglieder aus der ehemaligen Sowjetunion eine neue numerische Basis, eine frische Perspektive und eine Zukunft bekommen. Wir können jüdisches Leben jetzt auf ein neues Niveau katapultieren. Ob wir jemals wieder das Niveau von vor der Shoah erreichen können, ist jedoch fraglich. Aber es wächst ganz viel. Und darauf sind wir stolz.

Werden sich auch die Formen und Rituale des Gedenkens ändern?

Ich nenne Ihnen eine Chance für modernes Gedenken, die leider gerade vertan wird: Als mich vor zwei Wochen der damals designierte DFB-Präsident Wolfgang Niersbach wegen der antisemitischen Pöbeleien gegen FC-Kaiserslautern-Stürmer Itay Shechter anrief, habe ich vorgeschlagen, die Fußballnationalmannschaft könne während der Europameisterschaft in Polen und der Ukraine einen Gedenkort besuchen. Darauf bekam ich keine Antwort. Oliver Bierhoff äußerte sich dann eher ablehnend, er könne sich aber ein „Kamingespräch“ vorstellen. Meine Güte, stellen Sie sich bitte vor: Meine Großeltern sind in Auschwitz vergast und verbrannt worden. Und Herr Bierhoff schlägt nun vor, die deutschen Nationalspieler sollen in Polen am Kaminfeuer über den Holocaust sprechen! Sensibilität sieht anders aus.

Haben Sie noch mal mit ihm gesprochen?

Nein, die Chance ist verspielt. Erzwungenes Gedenken ist gar keins. Özil, Klose, Gomez, Schweinsteiger oder Khedira sind die Idole von heute, sie sind die Vorbilder für so viele junge Menschen. Wenn gerade sie Auschwitz besuchen und davon berührt sind, könnte das schließlich mehr bewirken als tausend Gedenkreden. Warum fällt das in Deutschland eigentlich niemand anderem ein? Warum muss gerade ein Jude so etwas ins Gespräch bringen? Und am Ende steht man sogar noch als Störenfried da, der den Fußballern die EM verderben will. Das tut weh. Sowohl mir als jüdischem Menschen wie als Fußballfan.

Ist es schwieriger geworden, mit Deutschen über die Verantwortung für die Vergangenheit zu sprechen?

Den Eindruck habe ich nicht, es gibt viel Sensibilität für das Thema. Heute geht es ja auch nie um Schuld, sondern um die Verantwortung, wissen zu wollen, um es künftig selbst besser machen zu können.

Normalisiert sich das Verhältnis von jüdischer Gemeinschaft und Mehrheitsgesellschaft?

Schon alleine an der Frage zeigt sich, dass es diese Normalität noch gar nicht gibt. Aber wir sind ein sehr weites Stück vorangekommen.

Ist es ein Schritt auf diesem Weg, dass der Berliner Senat jetzt genauer hinschaut, was die Jüdische Gemeinde Berlin mit den öffentlichen Geldern macht?

Da schaut man beim Zentralrat seit vielen Jahren hin und verlangt Transparenz. Das ist legitim und vollkommen normal.

Angesichts der Streitereien in der Gemeinde: Fürchten Sie eine Spaltung?

Die Berliner Gemeinde ist die größte, sie soll und muss zusammenbleiben. Wir werden die politische Kraft der jüdischen Gemeinschaft nicht erhalten, wenn wir uns aufspalten. Auch im Zentralrat spannen wir das Dach sehr weit. Das ist nicht immer einfach, aber dieser Balance-Akt muss gelingen. Ich bin optimistisch, dass sich auch in der Berliner Gemeinde jeder gut aufgehoben fühlen wird.

Glauben Sie, die Politik würde es zulassen, dass die Jüdische Gemeinde aus finanzieller Not eine Synagoge schließen muss?

Ich glaube überhaupt nicht, dass in Deutschland eine Synagoge geschlossen wird. Ich wünsche mir im Gegenteil, dass jüdische Institutionen neu blühen und wachsen. Genau so wird es auch sein.

Das Gespräch führten Claudia Keller und Juliane Schäuble. Das Foto machte Thilo Rückeis.

UNAUFFÄLLIG 

Seine Eltern haben den Holocaust überlebt und nannten ihren 1950 geborenen Sohn David. Bei der Einschulung sagten sie ihm, er heiße nun Dieter. Sie fürchteten, dass im Nachkriegsdeutschland auffällt, dass er jüdisch ist.

KÄMPFERISCH 

1985 demonstrierte er an der Seite von Ignatz Bubis, damals Vorsitzender der jüdischen Gemeinde Frankfurt, gegen Fassbinders Stück „Der Müll, die Stadt und der Tod“. Damals lernte er, dass man Dinge verändern kann, wenn man sich einmischt. Seitdem ist er auch als harter

Verhandler bekannt.

VERMITTELND 

Seit 2010 steht er an der Spitze des Zentralrats der Juden – als erster in diesem Amt, der den Holocaust nicht als Zeitzeuge erlebt hat. Er vermittelt zwischen alter und neuer Generation, zwischen etablierten und zugewanderten Juden, was oft nicht einfach ist.

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