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Dieter Graumann.

© dapd

Dieter Graumann: "Ich muss meinen eigenen Weg gehen"

Dieter Graumann ist der neue Präsident des Zentralrats der Juden. Der Zentralrat wählte den 1950 in Israel geborenen Immobilienkaufmann zum Nachfolger von Charlotte Knobloch. Geschichte einer Emanzipation.

Berlin - Am Anfang war David. David Graumann. Die Eltern hatten den Holocaust überlebt, und als sie 1950 in Israel einen Sohn bekamen, gaben sie ihm den Namen des Königs mit dem traurigen Herzen. Der Vater ertrug die israelische Hitze nicht, geschwächt wie er war von den Lagern und dem Todesmarsch. Sie kehrten nach Frankfurt zurück und machten einen Imbisswagen auf. Fast täglich erzählte die Mutter dem Sohn von verhungerten, erschlagenen, vergasten Menschen und dass sie sich nicht von ihren Eltern habe verabschieden können. Bei jedem, der am Imbisswagen Würstchen kaufte, überlegten sie, was der wohl im Krieg gemacht hatte. Als David sechs Jahre alt war, stellte ihn seine Mutter vor einen Spiegel und sagte: Ab heute heißt du Dieter. Am nächsten Tag wurde er eingeschult, niemand sollte erkennen, dass er jüdisch ist. Nicht aufzufallen ist das Überlebensprinzip der Eltern. Der Lehrer fragte gleich in der ersten Stunde alle Kinder nach ihrer Konfession, Dieter sagte jüdisch. Aber das hat er seinen Eltern erst viel später erzählt.

Am gestrigen Sonntag wurde die Spitze des Zentralrats der Juden in Deutschland neu gewählt. Charlotte Knobloch hat nach vier Jahren ihr Amt abgegeben. Sie war die letzte Zeitzeugin in dieser Position. Nun führt die Generation der Kinder der Zeitzeugen den Zentralrat an, die politische Vertretung der 108 jüdischen Gemeinden. Neuer Präsident ist Dieter Graumann. Er war bisher einer der beiden Stellvertreter von Knobloch und stellvertretender Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main. Dieter Graumanns Büro liegt in einem unscheinbaren Haus in der Innenstadt von Frankfurt, es ist klein, hat Dachschrägen und ist bescheiden mit Laminat ausgelegt. Dieter Graumann hat in Frankfurt und London Volkswirtschaftslehre und Jura studiert, bei der Bundesbank gearbeitet und betreibt heute die Liegenschaftsverwaltung, die sein Vater aufgebaut hat. Denn Dieter Graumann war bisher vor allem eines: Sohn. Jeden Morgen besucht er seine Eltern, die heute 85 und 89 Jahre alt sind.

Es ist der Donnerstag vergangener Woche, noch drei Tage bis zur Wahl, Graumann, schwarze Hose, weißes Hemd, kürbisfarbene Krawatte, ist bestens gelaunt, geradezu aufgekratzt, er spricht schnell und kann kaum still sitzen auf dem graublauen Ledersofa in seinem Büro.

Sein „Erweckungserlebnis“ war eine Demonstration gegen Rainer Werner Fassbinders Stück „Der Müll, die Stadt und der Tod“. Das war 1985. Bis dahin hatten viele Juden, die Verfolgung und Terror überlebt hatten und in Deutschland gestrandet waren, zurückgezogen gelebt, irgendwie anwesend in Deutschland, aber mit der Seele woanders. Begegnete man Nichtjuden, war die Beklemmung groß – auf beiden Seiten. Jedes Jahr am 9. November goss man die Beklemmung in Rituale, das machte es leichter. Dann ging wieder jeder seiner Wege. Aber 1985 macht auf einmal ein Jude Krawall: Ignatz Bubis, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Frankfurt. Er wollte Fassbinders Stück um einen jüdischen Immobilienspekulanten verhindern. Am Premierentag demonstrierten Dieter Graumann und andere Mitglieder der jüdischen Gemeinde vor dem Theater. Bei der Aufführung stürmte Bubis die Bühne, das Stück wurde abgesetzt. Ignatz Bubis wuchs eine neue Rolle zu. Mit ihm als Präsidenten wurde der Zentralrat ein paar Jahre später zum moralischen Gewissen der Bundesrepublik. Er war jetzt eine Stimme, auf die man hörte. Bei der Anti-Fassbinder-Demo habe er gemerkt, dass man Dinge verändern kann, wenn man sich einmischt, sagt Dieter Graumann. Die Eltern warfen ihm vor, die Sicherheit der Familie aufs Spiel zu setzen. Das machte ihm zu schaffen, doch er engagierte sich trotzdem. „Meine Generation hat immer das Gefühl, die Eltern nicht so sehr belasten zu dürfen“, sagt er.

Ignatz Bubis ist auch für Charlotte Knobloch bis heute das Vorbild. 1985 wurde sie Vorsitzende der Münchner jüdischen Gemeinde. „Das kann man sich eigentlich gar nicht vorstellen”, sagte sie immer wieder in den vergangenen Jahren. Dass sie 1938 an der Hand ihres Vaters durch die Straßen lief, rannte, ums Leben rannte. Als die Synagogen brannten, als Menschen auf Lastwagen getrieben wurden, als ihre Großmutter abgeholt wurde. Wie alleine sie da war. Und vor einer Woche hat ihr der Bundespräsident das Bundesverdienstkreuz verliehen, ihr, dem Mädchen, das man umbringen wollte. Manchmal scheint es, als könne sie selbst gar nicht glauben, dass sie das alles erlebt hat. Dass sich Deutschland so verändert hat. Sie ist 78 Jahre alt und erleichtert, aus der ganz großen Verantwortung an der Spitze des Zentralrats entlassen zu sein. Sie hat viel erreicht: Das neue Gemeindezentrum, die Synagoge und das jüdische Museum mitten in der Münchner Innenstadt gäbe es nicht ohne sie. „Wir sind sichtbar, wir sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen“, sagte sie am Sonntag.

Als Dieter Graumann ankündigte, für das Spitzenamt im Zentralrat zu kandidieren, war sein Vater sehr besorgt. Vor zehn Tagen musste er ins Krankenhaus. „Ich hoffe, das hängt nicht mit der Wahl zusammen“, sagt Graumann. „Aber ich muss doch mit 60 Jahren meinen eigenen Weg gehen.“ Dieter Graumann ist wie viele seiner Generation zerrissen zwischen dem Trauma der Eltern und den Erwartungen der Jüngeren. Zuwanderer aus der Ex-Sowjetunion bilden heute die Mehrheit in den Gemeinden. Viele sind arbeitslos. Auch ihnen ist die Erinnerung wichtig, aber noch wichtiger, dass die Gemeinden und der Zentralrat ihnen im Alltag helfen.

Ob er eine Vision habe, wohin er den Zentralrat führen will? Graumann könne knallhart sein, heißt es, er hat für den Zentralrat mit der Bundesregierung mehrmals über den Status und die Unterstützung der jüdischen Zuwanderer verhandelt. Er wolle „neue Akzente“ setzen, sagt er, aber er werde den Kurs nicht grundsätzlich verändern. Er rutscht ein wenig ungelenk in die andere Ecke des Sofas – ein bisschen unsicher, ein bisschen resigniert. Er würde gerne wie die Kirchen Politik mitgestalten. Aber die Kirchen haben 50 Millionen Mitglieder, die jüdischen Gemeinden etwas über 100 000. Die jüdische Kunstszene ist klein, es gibt ein Dutzend Intellektueller, nicht mal eine Handvoll Rabbiner, die in der Öffentlichkeit jüdische Positionen erklären könnten. Und er weiß ja, dass die Journalisten wieder bei ihm anrufen, wenn die NPD marschiert oder in Israel etwas passiert. Aus Ritualen herauszukommen, ist nicht leicht.

Es ist Nachmittag geworden. Ein paar Straßen von Graumanns Büro entfernt holen Eltern ihre Kinder aus dem jüdischen Kindergarten ab. Sie sprechen Russisch und Deutsch. Anders als Charlotte Knobloch, anders als Dieter Graumanns Eltern haben sie sich bewusst für ein Leben in Deutschland entschieden. Ihre Kinder werden sich vielleicht einmal so ungebrochen mit Deutschland identifizieren, wie es Juden noch nie getan haben. Das ist die große Chance für die jüdische Gemeinschaft und für das Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden. Endlich könnten sich die Beklemmungen auflösen. Diese nächste Generation von Juden in Deutschland wird den Holocaust nicht vergessen und sie wird frei sein, endlich „im Positiven anzukommen“ – so wie es sich Dieter Graumann wünscht. So wie es auch für die fünfjährige Charlotte Knobloch noch selbstverständlich war.

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