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Protest in Berlin gegen TTIP. Doch ohne Wachstum schrumpfen meist auch die Sozialleistungen.

© dpa

Digitale und energietechnologische Revolution: Verschlafen, selbstgerecht, panisch - Deutschland

Deutschland hat zwei wichtige Revolutionen verpasst - die digitale und die energietechnologische. Kein Wunder, dass deutsche Firmen ihr Heil nun zunehmend in Amerika suchen, während man hierzulande gegen den "Silicon-Valley-Kapitalismus" kämpft. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Es wird kalt in Deutschland, und das liegt nicht am Wetter. Im Wochentakt werden die Wachstumsprognosen nach unten korrigiert, Europas Wirtschaftslokomotive ruckelt und zuckelt. Die Auswirkungen der Russland-Sanktionen kommen bald noch hinzu. Anderswo in Europa sieht’s nicht besser aus: Das Geld ist billig wie nie, aber keiner investiert. Gleichzeitig muss gespart und die Konjunktur angekurbelt werden. Bloß, was soll man da ankurbeln? Worin besteht die Zukunft, die mit Renditen lockt?
Das deutsche Investitionsniveau liegt mit 17 Prozent des Bruttoinlandsprodukts deutlich unterhalb des OECD-Durchschnitts von 21 Prozent. Dabei sind die Kassen vieler Unternehmen prall gefüllt. Doch anstatt das Geld hierzulande zu Markte zu tragen, ziehen sie auf eine rekordverdächtige Einkaufstour durch die USA. Für rund 70 Milliarden Dollar wurden allein in diesem Jahr amerikanische Konzerne übernommen. Und zwar nicht wahllos, sondern gezielt. SAP übernimmt das Software-Unternehmen von Concur Technologies, um das eigene Cloud-Geschäft voranzutreiben. ZF Friedrichshafen übernimmt TRW Automotive, um vom PKW- Markt der Zukunft – selbst fahrende Autos – zu profitieren. Siemens kauft Dresser-Rand, um bei der weltweiten Förderung von Öl und Schiefergas dabei zu sein.

Roboter gegen Tischtennisspieler

Alle diese Unternehmen operieren global, für Fracking-Technologien und Gasverflüssigungsmaschinen interessieren sich eben auch Chinesen und Brasilianer, Inder und Saudis. Überdies sind Steuern, Löhne und Energiekosten in Amerika relativ niedrig, während die Investitionsneigung in Deutschland durch Mindestlohn, Rente mit 63, Energiewende und den demographischen Wandel zurückging. Entscheidend für das Auseinanderklaffen der Dynamiken dürften jedoch zwei Wegmarken sein. Die eine ist mit dem Begriff „digitale Revolution“ verbunden, die andere mit dem der „energietechnischen Revolution“.
Die „digitale Revolution“ haben Deutschland und Europa schlicht verschlafen. Man spricht heute über die Marktmacht von Amazon, Uber, Instagram, Facebook oder Google, staunt darüber, wie durch Big Data Übersetzungsprogramme perfektioniert, die Hungrigen der Welt effektiver ernährt und Roboter in die Lage versetzt werden, Profi-Tischtennisspieler zu besiegen. Doch durch Deutschland ging der Ruck erst, als Edward Snowden erzählte, wie die Überwachungsprogramme der NSA funktionieren. Seitdem ist das Misstrauen gegenüber der digitalen Welt weiter gestiegen (Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel spricht von „Silicon-Valley-Kapitalismus“), wer über ihre Chancen sinniert, gilt als Schönredner. Dabei ist klar: Jede Wachstumsindustrie beruht wesentlich auf digitalen Impulsen.
Bei der „energietechnischen Revolution“ wiederum sind Amerika und Deutschland in zwei entgegengesetzte Richtungen gelaufen. Dank der Fracking-Technik können sich die USA bald selbst mit Energie versorgen, der weltweit größte Energieproduzent sind sie bereits. Die Ölförderung stieg in den vergangenen drei Jahren um 50 Prozent, die Gasförderung zwischen 2005 und 2012 um ein Viertel. Das Resultat: Energie in Amerika kostet Verbraucher und Unternehmen rund die Hälfte dessen, was sie in Deutschland dafür bezahlen müssten.

Das Verfeuern von Kohle ist schon fast wieder auf DDR-Niveau

Die deutsche Energiewende wiederum hat die Strompreise explodieren lassen (der durchschnittliche Privathaushalt zahlt 260 Euro pro Jahr mehr) und das Verfeuern von Kohle auf DDR-Niveau ansteigen lassen. Weil außerdem unwahrscheinlich ist, dass erneuerbare Energien bis 2022 den Wegfall des Atomstroms kompensieren können, erhöht sich die Abhängigkeit von Exporten.
In Amerika hat sich diese Abhängigkeit verringert. Das spiegelt sich auch in dem halbherzigen Interesse, das Barack Obama den Entwicklungen im Maghreb, dem Nahen Osten und auf der Arabischen Halbinsel entgegenbringt. „Kein Blut für Öl“, hieß es einst empört, als die USA Kuwait befreiten. Inzwischen sieht es so aus, als würde Washington die Öl- und Gasrouten aus der Region einzig noch zum Wohle der Europäer verteidigen. Das strategische Augenmerk des Präsidenten richtet sich allenfalls auf Israel (Sicherheit des Landes) und den Iran (Verhinderung des Atomprogramms).
Es wird kalt in Deutschland. Wirklich aufgewacht scheint zunächst nur die Wirtschaft zu sein, die ihr Heil deshalb woanders sucht. Vielleicht muss es erst schlimmer kommen, bevor die Einsicht auch in Politik und Öffentlichkeit reift, das ein „Weiter so“ das „Weiter so“ verhindert.

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