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1893

© picture alliance / Mary Evans Pi

Politik: Ding, dang, dong

Kinderlieder sind unkaputtbar. Auch in Zeiten des Säuglingsmerchandising. Doch wer singt heute noch selbst – und was?

Ding dang dong, so fängt es an. Drei Silben, zwei Töne, einer runter, einer rauf, ein Singsang, ein Schaukeln und Wiegen – und bitte nochmal. Wieder und wieder, es hört gar nicht auf.

Der kleine Mann ist eineinhalb, er klettert auf den Klavierstuhl, haut auf die Tasten und wird plötzlich ganz still. Legt den Kopf schief, wartet, bis auch die anderen still sind, und hebt seine Stimme. Ding dang dong, hörst du nicht die Glocken, der Schluss von „Bruder Jakob“, er kennt das von den Eltern und der CD, er hat es hundertmal gehört und macht es nach, leise, sehr leise, als seien die Töne zerbrechlich.

Wenn kleine Kinder singen, wird es entweder frech oder feierlich. Ein Zauber umgibt das erste eigene Lied, eine scheue Euphorie, es ist anders als bei den Wörtern. Die Lust am Plappern, an der Sprache, an der Verständigung wird in eine andere Sphäre katapultiert, in das Reich der Magie, des Rituals. Der Mensch, wenn er singt, ist ein schöpferisches Wesen, und sei er noch so jung. Ding dang dong, es sind Klänge aus einer anderen Welt, der Welt hinter den Dingen, die voller Abenteuer und Geheimnisse steckt.

Man weiß ja nicht wie das anfing in der Geschichte der Menschheit, ob die Sprache zuerst da war oder der Gesang. In der Geschichte des Menschen erübrigt sich die Frage: Das Lallen geht über in rhythmisch geformte Silben; der Vers, der Reim, die Töne, die Bewegung, es ist alles gleichzeitig da. Kleiner Spaß, große Kunst. Schon „Hoppe Reiter“ und „Backe Kuchen“ sind regelrechte Gesamtkunstwerke aus Dichtung, Musik, Choreografie und Mitmach-Theater.

Der Kinderliedermacher und „Anne Kaffeekanne“-Erfinder Fredrik Vahle nennt es eine „frühe Form der Poesie im Menschenleben“ und zitiert damit Hans Magnus Enzensberger, der vor exakt 50 Jahren in seiner Kinderreim-Sammlung „Allerleirauh“ von der „prima poesis“ sprach und deren unverwüstlichen Charakter feierte. Enzensberger war 32 und gerade Vater geworden, 777 Reime hat er versammelt, Fingerspiele, Kribbelmärchen, Schüttelreime, Gassenhauer, Zungenbrecher, Mundart und Moritat, Schlaf Kindchen schlaf, Lirum Larum Löffelstiel, Trarira, der Sommer, der ist da... Die Verse sind Lieder und umgekehrt, ihre Poesie erfährt man am eigenen Leib, sagt der Dichter. Und dass die Reime kein Copyright kennen, weil sie alles verzehren, was ihnen gefällt, von Island bis zum Schwarzmeer, vom Mittelalter bis heute.

Aber wer singt heute eigentlich noch mit seinen oder andrer Leute Kinder? Wer schafft mehr als einen Durchgang von „Bruder Jakob“ im Kanon, wer kann alle Strophen von „Der Mond ist aufgegangen“ oder die zweite Zeile von „Häschen in der Grube“ fehlerfrei intonieren? Und gehen sie einem nicht schnell auf den Geist, diese Hänschenkleins und Heileheilegänschen, die viel quäkenden Kinderchorstimmen auf den CDs, ihre verordnete Fröhlichkeit samt der simplen Melodik, die die Tonleiter hochklettert oder höchstens zur Terz und Quint weiterhüpft, immer schön eine Silbe pro Ton und immer das Gleiche? Jedes Kind ist ein Wiederholungstäter, nervtötend sein ewiges Mantra „nochmal!“

Sicher wird heutzutage weniger gesungen als vor der Erfindung der Tonkonserve. Gehen neue Kinderlieder jetzt immer mit Merchandising-Kampagnen einher wie bei „Schnappi, das kleine Krokodil“, dem ersten Internet-Hit für die Kleinen? Gibt’s eigentlich schon iPods für Säuglinge?

Kinderlieder sind unkaputtbar, da hat Enzensberger Recht. Auch das Singen für Kinder stirbt ja so schnell nicht aus. Jeder noch so unwillige Erwachsene riskiert spätestens an Weihnachten Kehlkopf und Kragen, um ein paar eigene Töne zu fabrizieren, und die Anwesenheit von Kindern reizt selbst die untrainiertesten Stimmbänder. Jeder tut halt, was er kann. Mein ziemlich unmusikalischer Schwager trug seiner kleinen Tochter gern „Freude schöner Götterfunken“ vor, und spätestens bei „Tochter aus Elysium“ staunte das Kind. Der Kollege besänftigte das kolikengeplagte Söhnchen mit gekrächztem Tom Waits, Navid Kermani erzählt im „Buch der von Neil Young Getöteten“, dass seine die Nächte durchschreiende Tochter (ebenfalls Koliken) nur still wurde, wenn er die Lärmgewitter von „The Last Trip to Tulsa“ bis zum Anschlag aufdrehte. Quatschlieder, Kniereiter, Abzählverse – selbst notorischen Musikmuffeln macht das Spaß, denn es steckt eine gute Portion Dada im Hopphopphoppp und Eiaweiaweg, in Schnaderhüpferl und Ringelspielen. „Auf der Mauer, auf der Lauer“, „Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad“, „Ein Loch ist im Eimer“, die „Drei Chinesen mit dem Kontrabass“ gehören zu den Nonsens- Klassikern, die auch im MP 3-Zeitalter nicht aus dem kollektiven Gedächtnis verschwinden.

Als mein Vater seinen Urenkel das erste Mal sah, beugte er sich über den Wickeltisch und sang aus vollem Hals „In Chinesien, in Chinesien“, ein Lied aus dem „Kilometerstein“, einer Quatschliedersammlung aus den Jahren zwischen den Weltkriegen. Stimmungsaufheller für finstere Zeiten, so alt wie er selbst. Zuletzt hatten wir es von ihm gehört, als wir selber Kinder waren, auf langen Autofahrten in die Ferien. Der Refrain geht ungefähr so: „Oh mei kwonni monni kwonni/ oh mei kwihi und mei kwa / oh nikodemo tschermo tschermo kwing kwang kwai / oh nikodemo tschermo tschermo kwing kwang kwai.“

Wahlweise musste unsere Mutter das Lied vom Edelweiß singen. Wir quengelten solange, bis sie die Ballade von der Maid anstimmte, die sich die Blume von ihrem Liebsten wünscht, worauf der Alpenbursche in den Bergen zu Tode stürzt. Bei der Zeile „Das Edelweiß, so blutig rot, hält fest er in der Hand“ brachen wir regelmäßig in Tränen aus. Schluchzen kann so schön sein.

Kinderlieder sind paradox. Sie nerven, weil sie so leiern und der Ohrwurm in ihnen steckt, aber sie sind auch ein kostbares Gut, Erinnerung an frühe Momente des Glücks. Den eigenen Kindern singt man die Lieder vor, mit denen man selber aufwuchs, man kramt in seinem Gedächtnis und, kaum zu glauben, sie sind alle noch da. Kinderlieder sind oral history, Wegbegleiter durch die Generationen, eine Unterabteilung des mündlich überlieferten Volkslieds. Oft existieren sie in zig Varianten, mit uralten, aus Kirchenliedern oder dem Minnesang entlehnten Melodien und immer wieder veränderten Texten. Es gibt sie, seitdem die Kindheit als Kategorie existiert, also etwa seit dem 17. Jahrhundert.

Kinderlieder sind aber immer auch Kinder ihrer Zeit. Im brutalen Unsinn des „Chinesien“-Lieds vom „Großmogul aus Tiabet“, der sich verliabet und seinen eigenen Nachwuchs verspeist, schwingt die Weltoffenheit der Weimarer Republik ebenso mit wie jener Kolonialhumor, der schon die „Zehn kleinen Negerlein“ färbt. Das Edelweiß-Lied wurde auch von der Wehrmacht gesungen. Ob „Fuchs, du hast die Gans gestohlen“ oder „Maikäfer flieg“, was ihren politischen Kontext und ihren moralischen Imperativ betrifft, haben viele Lieder es in sich. Und wie das Volkslied durch die propagandistische Verwendung seitens der Nazis in Misskredit geriet, haftete auch dem Kinderlied nach 1945 etwas Ewiggestriges an.

Bis die Liedermacher kamen und das Gripstheater. Dieter Süverkrüp buddelte mit seinem „Baggerführer Willibald“ das von der Angst vor dem Nationalkonservativen verschüttete Handwerkerliedgut aus und reaktivierte das revolutionäre Potenzial des Endreims. „Der Willibald kriegt Wut./ Er sagt: Das ist nicht gut. / Er steigt auf eine Leiter: / Hört her, ihr Bauarbeiter!“ – Süverkrüps Verse gehören ebenso zum Arsenal der 68er-Folklore wie die Gripstheater-Songs „Wir werden immer größer“ oder „Wer sagt, dass Mädchen dümmer sind“.

Wer sich heute diese linken Flötentöne zu Gemüte führt, der staunt nicht schlecht über die ideologisch-pädagogische Last, die sie mit sich herumschleppen. Da wurde die Gleichberechtigung der Geschlechter, Generationen und sozialen Schichten beschworen, der kleine Baum musste vor dem Waldsterben gerettet werden und die Feier des Kollektivs – „Einer ist keiner / Zwei sind mehr als einer“ – klang schwer nach Mao-Bibel. Pioniertaten haftet im Rückblick ja oft etwas Forciertes, Ungelenkes an. Aber man tut den Kinderliedermachern unrecht, wenn man sie darauf reduziert. Schließlich haben sie das Aufmüpfige und den anarchischen Humor des Kinderlieds wiederentdeckt und das Singen zu Hause oder im Kindergarten vom Ruch der Spießigkeit befreit.

Heute fällt auf, dass die Grips-Evergreens zwar alle möglichen linken Ideale kindgerecht aufbereiten, nicht aber die multikulturelle Gesellschaft. Türkische oder arabische Kinder, die es im Berlin der 70er und 80er Jahre ja schon gab, tauchen in den Liedern nicht auf. Interessante Verdrängungsleistung. Hinzu kommt, dass überwiegend Erwachsene singen. Wir singen vor, ihr macht mit. Das wäre heute undenkbar: In den CDs der Berliner „Kinder vom Kleistpark“, die die dortige Kita mit der Scharmützelsee-Grundschule und der Leo-Kestenberg-Musikschule herausbringt, begleiten die Erwachsenen die krähenden, flüsternden, trötenden, trommelnden Kinder, und nichts klingt kindisch daran. Die Kids stellen sich und ihr Herkunftsland (Libanon, Russland, Afrika) namentlich vor, präsentieren „Bruder Jakob“ auf türkisch, deutsch und französisch, singen Lieder aus Japan, Ungarn, Grönland, Aserbaidschan, Indien, Italien und der Türkei. Zauberhafte Melodien, die Ohrwürmer der globalisierten Welt. Viele sind mit einer Grundmelancholie ausgestattet, die überall ausgeprägter zu sein scheint als in der Musiknation Deutschland.

Die Kleistpark-Kinder sind auch beim „Lieder-Projekt“ dabei, einem höchst lebendigen Archiv deutschsprachigen Liedguts, an dem sich seit 2008 Kinder- und Jugendchöre, Liedermacher und Konzertsänger ohne Gagen beteiligen. Sieben Audio-CDs sind bislang erschienen, mit Booklets, Bilderbüchern, Begleitmusik-CD und Noten – oder als Gratis-Download auf www.liederprojekt.org. So feiert die Populärkultur von unten eine ungeahnte Renaissance, ganz im Sinne Enzensbergers, der über den Kinderreim meinte, er bitte uns an den ältesten Tisch und setze uns das Frischeste vor. Nur dass das Kinderlied keinen Segen von oben braucht, stimmt dann doch nicht mehr. Schirmherrin des Benefiz-Projekts ist Angela Merkel.

Etwas Ähnliches gab es schon im frühen 19. Jahrhundert. Die Gebrüder Grimm sammelten Märchen, Achim von Arnim und Clemens Brentano sammelten Lieder und veröffentlichten sie unter dem Titel „Des Knaben Wunderhorn“. Die 1808 erschienenen Kinderlieder im Anhang des dritten Bands lösten eine wahre Welle von ähnlichen Kompendien aus, bald darauf wurden eigene Verse und Kompositionen ersonnen. Herzlichkeitspoesie war Trumpf, sie löste das Kinderlied der Aufklärung ab, das als moralisches Erbauungs-, Belehrungs- und Bildungsinstrument schrecklich bieder ausfiel.

Aus dem späten 19. Jahrhundert stammt mit Humperdincks „Hänsel und Gretel“ nicht nur die berühmteste Kinder-Oper, sondern auch der Großteil der bis heute geläufigen Kinderlieder. Ihr fleißigster Dichter war Hoffmann von Fallersleben. „Alle Vögel sind schon da“, „Winter ade“, „Ein Männlein steht im Walde“, 383 Lieder stammen aus seiner Feder. Und das Lied vom Hänschen, das sieben Lehr- und Wanderjahre in die Welt hinauszieht und als gestandener Mann nach Hause zurückkehrt, hat der Dresdner Lehrer Franz Wiedemann verfasst. Der evangelische Theologe Otto Frommel münzte „Hänschsen klein“ 1899 dann verniedlichend auf einen Jungen um, der von zu Hause ausbüchst und gerade bis zur nächsten Straßenecke kommt. Es gab Jahreszeitenlieder, Weihnachtslieder, Wetterlieder, Wanderlieder, Volkslieder, Berufslebenslieder, „Im Märzen der Bauer“, „Es klappert die Mühle“ oder eben das französische Lied vom Mönchsbruder Jakob, der die Frühmesse schwänzt. Die meisten Verse taugten auch für den Nachwuchs.

Die Romantik entwickelte ein schwärmerisches Verhältnis zur Kindheit. Sie wurde zum Inbegriff von Natürlichkeit idealisiert, zum Sehnsuchtsraum für die vermeintlich verlorene Unschuld. Schläft ein Kind in allen Liedern: Achim von Arnim glaubte, die Volkspoesie könne den „großen Riss der Welt heilen, aus dem die Hölle uns angähnt“, Clemens Brentano sprach sich Wiegenlieder vor, „damit das weinende Kind in meinem Herzen endlich schweigt“. Damit fängt es ja bei den Erwachsenen an, wenn sie für Kinder singen. Schlaf-, Schlummer- und Wiegenlieder singt man immer auch für sich selbst.

„Wigen wagen gigen gagen/wenne will ez tagen“: Die Wiegenlieder sind die ältesten und raffiniertesten Kinderlieder. Sie wollen Frieden stiften, aber es toben Kriege darin. Sie artikulieren Sorgen und Ängste, können ihre Verzweiflung oft nur mühsam kaschieren. „Eia popeia ist das eine Not!/ Wer schenkt mir ein Heller zu Zucker und Brot?“, Gevatter Hunger lauert vor der Tür, der Wolf streicht draußen im Walde herum. Im bürgerlichen Zeitalter wird daraus eine harmlosere Not. „Schlaf du kleines Engelsfüllen, morgen schneit es Zuckerpillen“, dichtete der Romantiker Richard Dehmel, jede Strophe seines Schlaflieds beginnt herzallerliebst und endet mit Flüchen: „Bengel, Bengel, brülle nicht, du verdammter Strampelwicht.“ Das Schlaflied als Aggressionsabfuhr, Nachtgebet erschöpfter Mütter und Väter, die auch mal ihre Ruhe brauchen.

Der kleine Mann ist mittlerweile zwei, „Bruder Jakob“ mag er immer noch gern. Als seine Mutter beim Aufbruch zur Kita kürzlich länger brauchte als sonst, überraschte er sie mit einem anderen Text zur Melodie, mit „Kleine Schnecke, kleine Schnecke“. Kinderverse, sagt Enzensberger, kennen keine Autoritäten, sie machen sich lustig über Gott und die Welt. Vielleicht überdauert das Kinderlied deshalb so hartnäckig: Weil es in die Welt der Magie entführt, ins Reich der Schnecken, Engelsfüllen und Butzemänner, und dabei immer die Geistesgegenwart aufbringt, sich seinen eigenen Reim auf die Großen zu machen.

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