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Ganz im Alltag. Viele Menschen in der Türkei messen dem Streit keine große Bedeutung bei.

© imago/Hoch Zwei Stock/Angerer

Diplomatische Krise nach Inhaftierungen: Was die Türken vom Streit mit Deutschland halten

Die Türkei wirft Berlin vor, im Wahlkampf die guten Beziehungen dem Populismus zu opfern. Die Verhaftung eines deutschen Menschenrechtlers erscheint aus Sicht Ankaras völlig legitim.

Abdullah schüttelt den Kopf. „Das ist doch nur Gerede“, sagt der Istanbuler Ladeninhaber über den jüngsten Streit zwischen der Türkei und Deutschland. „Erdogan will seine eigenen Anhänger bei der Stange halten, weiter nichts“, sagt er über den türkischen Staatschef. Ein grundsätzliches Zerwürfnis zwischen Deutschen und Türken vermag der Mittvierziger nicht zu erkennen.

Das sieht Erdogans Regierung allerdings ganz anders. Präsidentensprecher Ibrahim Kalin wirft Berlin vor, die guten Beziehungen zwischen beiden Ländern im Bundestagswahlkampf dem Populismus zu opfern. Dass die Verhaftung des deutschen Menschenrechtlers Peter Steudtner aus Sicht Ankaras völlig legitim erscheint, zeigt das Ausmaß der Entfremdung zwischen beiden Ländern.

Es sei respektlos, die türkische Justiz als Befehlsempfängerin der Regierung hinzustellen, kritisierte Kalin. Allerdings hatte Erdogan selbst diesen Eindruck verbreitet, indem er Steudtner und die anderen Anfang Juli bei einem Seminar in der Nähe von Istanbul festgenommenen Aktivisten öffentlich als staatsfeindliche Verschwörer vorverurteilte. Insbesondere seit dem Putschversuch des vergangenen Jahres haben Regierungskritiker innerhalb und außerhalb der Türkei ernste Zweifel an der Unabhängigkeit türkischer Staatsanwälte und Richter.

Wenn ich eine Reise in die Türkei gebucht hätte, würde ich diese nicht aus Sorge um meine eigenen Sicherheit stornieren, sondern aus Solidarität mit den Gefangenen, um ein Zeichen zu setzen.

schreibt NutzerIn marliesa

In Istanbul steht nicht nur Abdullah (Name geändert) der Haltung der eigenen Regierung skeptisch gegenüber. Hinter den Kulissen bemühe sich Erdogan sicher längst darum, die Krise zu entschärfen, sagt er. Deutschland sei schließlich der wichtigste Handelspartner der Türkei. Ein Straßenhändler in der Altstadt ist ebenfalls sicher, dass der Streit um die kürzliche Verhaftung von Steudtner und anderen Menschenrechtlern nur politischer Theaterdonner ist. „Krach herrscht nur zwischen den Politikern, aber nicht zwischen den Menschen“, sagt der Mann.

Die Erdogan-Regierung sieht sich als Opfer ungerechtfertigter Angriffe

Erdogan-Anhänger sehen die Verantwortung für den Streit bei Berlin. Die deutsche Regierung mache sich mitschuldig, indem sie Putschanhängern Asyl gebe, sagt ein Taxifahrer. „Ich bin sauer auf die deutschen Politiker, aber nicht auf die normalen Deutschen.“ Auch die Erdogan-Regierung sieht sich wieder einmal als Opfer ungerechter Angriffe. Präsidentensprecher Kalin spricht von einer deutschen „Mode“, bei jeder Gelegenheit über die Türkei herzufallen. Die Warnung von Bundesaußenminister Sigmar Gabriel an deutsche Touristen und Unternehmer, in der Türkei herrsche keine Rechtssicherheit mehr, weist Kalin mit scharfen Worten zurück. Besucher und Investoren aus der Bundesrepublik seien in seinem Land sicher. Für die inhaftierten Deutschen – neben Steudtner gehören dazu auch die Journalisten Deniz Yücel und Mesale Tolu Corlu – gilt dies jedoch nicht: Bei ihnen handelt es sich nach Worten des Sprechers um Verdächtige, die Böses im Schilde führten.

Während der politische Streit eskaliert, fragen sich manche Türken, warum die Erdogan-Regierung immer wieder den Streit mit dem Westen sucht. Nicht nur mit Deutschland liegt Ankara über Kreuz, sondern auch mit den Vereinigten Staaten, die in Syrien mit den Kurden kooperieren und den mutmaßlichen türkischen Putschführer Fethullah Gülen bisher nicht an Ankara ausliefern wollen. Die regierungsnahe türkische Presse wirft den USA vor, mithilfe des in Pennsylvania lebenden Gülen den Putschversuch vom 15. Juli 2016 gelenkt zu haben.

Ladenbesitzer Abdullah ist sicher, dass es Erdogan beim außenpolitischen Zwist vor allem um die Innenpolitik und die Motivation seiner Kernanhängerschaft geht. In zwei Jahren sind Kommunal-, Parlaments- und Präsidentenwahlen geplant, bei denen der Staatschef seine Machtposition zementieren will. Manche Beobachter glauben, dass Erdogan die Wahl auf das kommende Jahr vorziehen könnte.

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