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In Sprachkursen lernen Migranten die deutsche Sprache.

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Integrationsforscher: "Ich sehe wenig Verständnis für Migration"

Haci Halil Uslucan ist der neue Leiter des Zentrums für Türkeistudien. Mit dem Tagesspiegel spricht der Integrationsforscher über Bildungslücken der Migrationsdebatte und desintegrierte Deutsche.

Sie leiten jetzt das Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung in Essen – ist so ein Institut noch zeitgemäß?

Wir haben ja durch die Namenserweiterung um „Integrationsforschung“ signalisiert, dass es nicht mehr ausschließlich um die Türkei und die Deutsch-Türken geht. Aber Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre war mehr Wissen über ein Land nötig, aus dem die meisten Migranten gerade hier in Nordrhein-Westfalen stammten. Und das brauchen wir nach wie vor.

Ist Integrationsforschung nicht sowieso zu sehr auf Ethnisches fixiert? Es gibt ja auch desintegrierte Deutsche.

Es hat tatsächlich wenig Sinn, Desintegration und soziale Auffälligkeiten an Ethnien festzumachen. Beispiel Gewalt: Ich habe selbst in Magdeburg über Gewalt unter jungen Nichtmigranten geforscht. Wenn Einheimische in schlechten Wohngegenden leben, ohne Identifikationsmöglichkeiten, ist das ein Nährboden für Gewalt. Wir wissen auch, dass Gewalt weitergegeben wird, dass aus geprügelten Kindern eher schlagende Eltern werden und sogar später Großeltern einer weiteren Generation geprügelter Kinder. Das interessiert eine aufgeregte Öffentlichkeit aber nicht. Da bleibt dann nur hängen: Türken schlagen mehr.

Integration ist seit Jahren ein Aufregerthema, wie gerade die Sarrazin-Debatte zeigte. Gab es aus Ihrer Sicht Fortschritte?

Wir wissen heute viel mehr als vor zehn, 15 Jahren, das akademische Feld ist interkulturell offener. Es wird viel geforscht und publiziert. Aber die Schere zwischen diesem Wissensfundus, neuen Denkweisen, neuer kultureller Kompetenz und dem medialen Austausch darüber öffnet sich immer weiter. Die Presse, entschuldigen Sie, scheint mir oft in den 80er Jahren stehen geblieben zu sein.

Was meinen Sie?

Ich sehe wenig Verständnis für Migration als einen bedeutenden historischen Prozess, in dem wir alle stecken. Der soll von jetzt auf gleich beendet sein, Integration, so meint man, müsse so abfolgen, dass man in zehn bis fünfzehn Jahren dem Fremden keine Fremdheit mehr ansieht. Einmal abgesehen davon, ob das erstrebenswert ist: Wir sehen doch nach 20 Jahren deutscher Einheit, dass das nicht mal zwischen Ost- und Westdeutschen klappt.

Haci Halil Usculan
Haci Halil Usculan

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Versagt da nicht auch die Wissenschaft?

Da können wir mehr tun, ja. Ein Sozialwissenschaftler, der sagt, ich forsche und was die Journalisten daraus machen, ist deren Bier, der hat seinen Beruf verfehlt. Nehmen Sie die jetzt wieder diskutierte „enorme Fruchtbarkeit“ der Migranten. Debattiert wird darüber wie in den rassistischen Diskursen des 19. Jahrhunderts über die „Primitiven“, die ihre Triebe nicht beherrschen könnten. Entscheidender ist, dass Kinder in bäuerlichen Gesellschaften einen hohen Wert als Altersversorgung haben. Diese Mentalität wechselt ja nicht sofort mit dem Wechsel des Raumes, also mit der Migration in ein Land mit öffentlich organisierter Alterssicherung. Dies nur als Beispiel dafür, dass wir das, was wir auf der Straße sehen, für nicht hinterfragbar halten. Tatsache ist aber: Wir haben keinen direkten, unvorbelasteten, frischen Zugriff auf die Wirklichkeit. Was da vermeintlich vor uns liegt, ist immer schon stark gedeutet. Und Forscher müssten das sichtbar machen.

Läuft die Integrationsdebatte aus Ihrer Sicht eher positiv oder negativ?

Sowohl als auch. Das Kapital darin ist Aufmerksamkeit, es wächst durch steile Thesen und ist für die gegenwärtig Beteiligten konvertierbar: in Geld, Ansehen, Preise. Zum Beispiel werden Ehre, Gewalt, Männlichkeit in migrantischen Wertesystemen seit langem beforscht. Aber erst der anklagende, auch hämisch-abwertende Ton von Necla Kelek und anderen hat diese Themen öffentlichkeitstauglich gemacht. Das kann man bedauern. Man kann darin aber auch einen Prozess sehen, der gut läuft. Die höhere Aufmerksamkeit schafft die Chance, etwas zu verbessern: Unsere Institutionen, vielleicht auch unseren Alltag.

Das Gespräch führte Andrea Dernbach.

Haci Halil Uslucan leitet seit vier Wochen das Essener „Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung“. Der 45-jährige Psychologe ist zudem Professor an der Uni Duisburg-Essen.

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