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Im Tagesspiegel-Haus am Askanischen Platz (von links): Karl-Georg Wellmann, Michelle Müntefering, Moderator Gerd Appenzeller und die FU-Professoren Carina Sprungk und Philip Kunig im Gespräch

© Doris Spiekermann-Klaas

Diskussion beim Tagesspiegel: Die Türkei: Ewige EU-Kandidatin und Frontstaat gegen IS

Wissenschaftler und Politiker diskutierten im Tagesspiegel-Haus, wie der Vormarsch des "Islamischen Staats" den Blick auf die Türkei verändert.

Die Türkei als EU-Kandidatin im ewigen Warteraum, die Türkei Erdogans und der Gezi-Proteste gegen einen selbstherrlichen Regenten: Als der Tagesspiegel, die Freie Universität (FU) und die Schwarzkopf-Stiftung ihre gemeinsame Diskussionsveranstaltung „Erdogan und die Türkei – wohin führt der Weg?“ planten, waren das die Themen. Inzwischen, bemerkte Gerd Appenzeller, Berater der Tagesspiegel-Chefredaktion, am Mittwochabend, fällt ein neuer Blick aufs Land: die Türkei als Nato-Partnerin, als Frontstaat gegen den „Islamischen Staat“ (IS).

Ankaras "Drecksjobs"

Aber kann und will sie das sein? Und was, wenn eine Verwicklung in den Krieg des IS den Nato-Bündnisfall auslöst? Das brauche es nicht, sagt der Berliner Bundestagsabgeordnete und CDU-Außenpolitiker Karl-Georg Wellmann, „die Türkei ist stark genug“. Als Nato-Land sei sie zugleich in der Pflicht. Wellmann zitiert die drastischen Worte der Kanzlerin im Auswärtigen Ausschuss am selben Tag: „Von einem Nato-Land muss man mehr erwarten, als dem Massensterben zuzusehen.“ Genau das geschehe aber gerade: „Die PKK wird abgeschlachtet, der IS macht den Drecksjob für Erdogan.“ Lange genug habe er die Terrormiliz ohnehin unterstützt. Seine Bundestagskollegin Michelle Müntefering (SPD), die auch Vorsitzende der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe ist, pflichtet bei: „Dass die Türkei die Kurden jetzt im Stich lässt, ist sehr schwierig.“ Der Einspruch aus dem Publikum ist deutlich: Es sei vielmehr die Türkei, die die „Drecksarbeit“ für die Nato machen und den IS bekämpfen solle. Ankara dürfe auch gar nicht eingreifen, die völkerrechtliche Grundlage sei nicht da.

Wenn Brüssel mit zweierlei Maß misst

Und Europa? Hat der Türkei gerade wieder schriftlich gegeben, dass man einander mehr denn je brauche, und mit Nachdruck „neuen Schwung“ für die EU-Beitrittsverhandlungen gefordert. Doch der neue Fortschrittsbericht zum Stand der Annäherung, sagt Carina Sprungk, „kommt in den Schlagzeilen kaum vor“. Sprungk ist Juniorprofessorin für Europäische Integration an der FU; eine gewisse „Türkeimüdigkeit“ bemerkt sie sogar unter ihren Studierenden. Die müsse sie, anders als vor wenigen Jahren, zu diesem Thema geradezu zwingen.

Den Abnutzungsprozess im Beitrittsprozess kennt ihr Kollege Philip Kunig aus eigener Anschauung. Der FU-Jurist ist als Vizepräsident des Konsortiums für die Gründung der Türkisch-Deutschen Universität etwa zweimal im Monat in der Türkei und beklagt doppelte Standards in Brüssel: Natürlich sei vieles problematisch in der türkischen Justiz. Sie sei überlastet und es gebe Einwirkung auf Richterberufungen. Der Brüsseler Schuldspruch, dass etwas „nicht europäischen Standards“ entspreche, sei angebracht, wenn es darum gehe, dass die Türkei die Europäische Menschenrechtskonvention einhält. Er sei es nicht, wenn er behaupte, in der EU entspreche alles diesen Standards.

Europa will nicht mehr wachsen

Das Podium ist sich einig, dass die Türkei zu Europa gehört. Europa sei kein geografischer Begriff, sondern „eine Idee“ (Kunig). Warum das außerhalb des Saal so anders sei, will einer aus dem sehr jungen und informierten Publikum wissen: „Ist es wirklich Feindlichkeit oder eher Angst vor der Türkei“ mit ihrer rasch wachsenden Bevölkerung? Diese Angst gebe es, sagt Sprungk, schließlich hätte ein EU- Mitglied Türkei Deutschland als größtes EU-Land bis 2050 abgelöst. Im Moment allerdings schade dem Beitrittsprojekt eine allgemeine „Erweiterungsmüdigkeit“. Ein Europa, das seine früheren Erweiterungsrunden „noch verdaut“ (Sprungk), will erst einmal nicht mehr wachsen.

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