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Wissenschaftler und Politiker diskutierten beim Tagesspiegel über Europa.

© Kai-Uwe Heinrich

Diskussion: Von Märkten und Möglichkeiten

„Ist Europa noch zu retten?“ Politiker und Wissenschaftler diskutieren bei einer Tagesspiegel-Veranstaltung über die Euro-Krise, entfesselte Märkte - und den Ausgang der Wahl in Italien.

Italiens Wähler hatten es so gewollt. Eigentlich stand die Diskussion unter der Überschrift „Ist Europa noch zu retten?“, bei der sich eine Runde aus Politikern und Wissenschaftlern im Tagesspiegel-Haus einen munteren Schlagabtausch lieferte, im Zeichen der Frage, wie in Europa regiert wird – demokratisch oder „marktkonform“, um es mit dem umstrittenen Diktum von Kanzlerin Angela Merkel zu sagen. Aber nun hatten Italiens Wähler ein äußerst verwirrendes Votum abgeliefert. Und die Wahl, die den Komiker Beppe Grillo zum lachenden Dritten gemacht hat, wollte bei der Diskussion am Dienstagabend am Askanischen Platz erst einmal kommentiert werden. Sahra Wagenknecht, die stellvertretende Vorsitzende der Linkspartei, bezeichnete Grillos Erfolg als „das positive Ergebnis dieser Wahl“. Das mochte Michael Roth, der europapolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, so nicht stehenlassen: „Beppe Grillo ist kein Vorbild für eine lebendige, sich selbst ernst nehmende Demokratie.“

Das große Thema der Euro-Krise lieferte einigen Stoff zum Streit – nicht nur für Wagenknecht und Roth, sondern auch für den Europarechtler Christian Calliess und den Historiker Paul Nolte. Die beiden Professoren der Freien Universität (FU) lieferten gewissermaßen den breiteren Horizont für die Debatte, die der Tagesspiegel zum Auftakt der Veranstaltungsreihe „Wissenschaft trifft Politik“ gemeinsam mit der FU und der Schwarzkopf-Stiftung „Junges Europa“ veranstaltete. So schlug Nolte vor, jenseits der aktuellen Italien-Diskussion nicht gleich das Bild einer tödlichen EU-Krise heraufzubeschwören, sondern eher von einer „Midlife Crisis“ der Gemeinschaft zu sprechen. Und auch Calliess erinnerte daran, dass sich nach einer dreijährigen Medienberichterstattung über Schuldenberge und Defizitabbau inzwischen die Wahrnehmung in Europa geändert habe. „Ich sehe in der Krise auch das Entstehen einer europäischen Öffentlichkeit“, sagte der Europarechtler.

In der Frage allerdings, ob die Öffentlichkeit in der Euro-Krise eher als Akteur auftritt oder von Spar-Diktaten getrieben wird, schieden sich die Geister in der von Tagesspiegel-Herausgeber Gerd Appenzeller moderierten Diskussion. Sahra Wagenknecht bezeichnete die EU als „Demokratieabbauprojekt“. Seit dem EU-Vertrag von Maastricht zu Beginn der Neunzigerjahre sei Europa zu einem „Marktprojekt“ geworden, monierte die Linken-Politikerin. Sie illustrierte ihre Kritik mit ihren Erfahrungen als Europaabgeordnete zwischen 2004 und 2009. Sie habe erlebt, dass der Einfluss von Wirtschaftslobbyisten auf der EU-Ebene viel offener sichtbar sei als in Berlin, sagte sie. Daher entstehe der Eindruck, dass EU-Entscheidungen in erster Linie den Reichen und den Banken dienten. Mit Blick auf Griechenland machte Wagenknecht die Rechnung auf, dass von den bereitgestellten Hilfsgeldern der internationalen Geldgeber mit einem Volumen von 188 Milliarden Euro der allergrößte Anteil – nämlich 183 Milliarden Euro – in die Bankenrettung geflossen sei. Bankaktien und Bankschuldverschreibungen würden fast ausschließlich von den reichsten fünf Prozent der Haushalte gehalten, sagte Wagenknecht. Daher müsse diese Bevölkerungsgruppe statt der breiten Masse der Steuerzahler auch für die Verluste der Finanzinstitute haften.

Dies rief wiederum Roth auf den Plan. „Dieses ständige Banken- Bashing bringt uns nicht weiter“, mahnte er. Der SPD-Mann merkte an, dass von einer möglichen Bankenpleite große Bevölkerungsschichten betroffen wären – der Mittelstand, Kleinsparer und alle, die ihre Altersvorsorge den Finanzinstituten anvertraut hätten. Zudem erwecke Wagenknecht den fälschlichen Eindruck, dass die Politik in der Euro-Krise nicht mehr das Heft in der Hand halte, sondern die Märkte.

Auch Calliess und Nolte mochten sich Wagenknechts Philippika gegen die vollkommen „entfesselten Märkte“ nicht anschließen: Während der Europarechtler Calliess daran erinnerte, dass die Euro-Krise in ihrem Ursprung letztlich eine Staatsschuldenkrise sei, beschrieb der Historiker Nolte eine Vision für Europa – nämlich als „Demokratieermöglichungsprojekt“.

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