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Dokumentation: Auszüge aus der Urteilsbegründung

Der Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe, Winfried Hassemer, hat das Urteil zur Neuwahl des Bundestages am 18. September verkündet. Eine Dokumentation in Auszügen.

« ... Grundsätzlich bedürfen der Bundeskanzler und seine Regierung einer verlässlichen parlamentarischen Mehrheit. Verlässlich bedeutet in diesem Zusammenhang, dass der Kanzler für das von ihm vertretene politische Konzept eine prinzipielle und ausreichende parlamentarische Unterstützung erwarten darf ... Ob der Kanzler über diese verlässliche Unterstützung verfügt, kann von außen nur teilweise beurteilt werden ... Aus den parlamentarischen und politischen Arbeitsbedingungen kann sich ergeben, dass der Öffentlichkeit teilweise verborgen bleibt, wie sich das Verhältnis des Bundeskanzlers zu den seine Politik tragenden Fraktionen entwickelt.

... Vermag der Bundeskanzler nicht mehr die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich zu vereinigen, wird seine Lage vom Grundgesetz als politische Krise eingestuft ... Grundsätzlich stellt das Grundgesetz solche Auswege aus einer parlamentarischen Krise bereit, die auf die Wiederherstellung der Mehrheitsverhältnisse im Deutschen Bundestag gerichtet sind. Dabei handelt es sich um den Rücktritt und die Neuwahl eines Kanzlers ..., die Neuwahl eines anderen Kanzlers in Form des Konstruktiven Misstrauensvotums ... und um die Vertrauensfrage des Kanzlers ...

... Es ist gemessen am Sinn des Artikel 68 nicht zweckwidrig, wenn ein Kanzler, dem Niederlagen im Parlament erst bei künftigen Abstimmungen drohen, bereits davor eine auflösungsgerichtete Vertrauensfrage stellt. Denn die Handlungsfähigkeit geht auch dann verloren, wenn der Kanzler zur Vermeidung offener Zustimmungsverluste im Bundestag gezwungen ist, von wesentlichen Inhalten seines politischen Konzepts abzurücken und eine andere Politik zu verfolgen ... Der Kanzler muss zwar unter der Kontrolle und unter Mitwirken des Bundestags handeln und sich insofern um den alltäglichen Kompromiss bemühen. Die Verfassung sieht die Regierung aber auch nicht als einen exekutiven Ausschuss des Parlaments an.

... Es besteht keine Pflicht (des Bundeskanzlers), zuerst mit einer so genannten echten Vertrauensfrage, die auf Zustimmung zu Person und Programm des Bundeskanzlers zielt, im Bundestag die Kräfteverhältnisse auf die Probe zu stellen ... Schließlich ist es auch nicht zweckwidrig, wenn der Kanzler im Hinblick auf seine künftige politische Rolle in seiner Fraktion und seiner Partei einen Zeitpunkt wählt, der ein Zerwürfnis noch nicht als irreparabel erscheinen lässt. Der Kanzler kann nicht, um die rechtliche Prüfung zu vereinfachen, gezwungen werden, die instabile Lage zu verschärfen, die er durch die auflösungsgerichtete Vertrauensfrage gerade zu überwinden sucht.

... Wie weit darf sich das Bundesverfassungsgericht in fremde Entscheidungen über das Vorliegen einer instabilen Lage einmischen? Das Bundesverfassungsgericht prüft die zweckentsprechende Anwendung des Artikel 68 nur in dem von der Verfassung vorgegebenen eingeschränkten Umfang ... Zu dem vom Bundeskanzler behaupteten Verlust seiner parlamentarischen Mehrheit lassen sich mit den in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren verfügbaren Erkenntnismitteln keine sicheren Feststellungen treffen, ohne die politische Handlungsfreiheit unangemessen zu beschränken. ... Das gewaltenteilende System des Grundgesetzes verteilt die Verantwortung für die Auflösung des ... Bundestages auf drei Verfassungsorgane, deren Entscheidungen zudem der verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterliegen.

... Ob eine Regierung politisch künftig noch handlungsfähig ist, hängt maßgeblich davon ab, welche Ziele sie verfolgt und mit welchen Widerständen sie aus dem parlamentarischen Raum zu rechnen hat. Derartige Einschätzungen haben Prognosecharakter und sind an höchstpersönliche Wahrnehmungen und abwägende Lagebeurteilungen gebunden ... Was im politischen Prozess in legitimer Weise nicht offen ausgetragen wird, muss unter den Bedingungen des politischen Wettbewerbs auch gegenüber anderen Verfassungsorganen nicht vollständig abgehandelt werden ...

Der für die Auflösung nach Artikel 68 geltende anspruchsvolle Mechanismus der Gewaltenteilung vermag sich sinnvoll nur zu entfalten, wenn das Bundesverfassungsgericht die politische Einschätzung der Lage durch die zuvor tätigen Verfassungsorgane respektiert ...» (Quelle: dpa)

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