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Draußen bei den Herden: Die letzten Hirten von Bethlehem

Käme Jesus dieses Jahr zur Welt, die Schäfer würden ihn nicht finden, sie würden am Checkpoint aufgehalten. Zwischen Siedlungen und Grenzen stirbt der biblische Beruf gerade aus.

Die Freiheit der Schafe in Beit Jalla reicht für fünf große Sprünge. Der Schäfer Carlos Sarras, 75 Jahre alt, zieht an diesem Morgen um Viertel nach acht die Stalltür auf und wedelt mit seinem Stöckchen, um seinen 55 Schafen Dampf zu machen. Die Tiere wissen längst, dass sie nur in das kleine Gehege auf der anderen Seite springen dürfen. Und Sarras weiß längst, dass sie wieder versuchen werden über den Hof an seinem Wohnhaus vorbei auf die angrenzenden Felder zu laufen.

Doch in einem besetzten Gebiet, in dem sich selbst die Bewohner nicht überall frei bewegen können, endet auch die Freiheit der Schafe spätestens an den Mauern zur nächstgelegenen Siedlung oder an der Grenze zu Israel.

Ein kalter Wind weht an diesem trüben Morgen über den Hof von Sarras in Beit Jalla, einem Städtchen nahe Bethlehem im Westjordanland. Beit Jalla liegt auf einem Berg, fast 900 Meter über dem Meeresspiegel.

Wenn Sarras über die geländerlose Treppe auf sein Hausdach steigt, blickt er direkt auf die Straße Nummer 60, die nach Hebron führt, und damit auch auf die Mauer, die die israelische Regierung vor beinahe zehn Jahren errichten ließ. Seither kommt Sarras nur mit einer speziellen Genehmigung durch den Checkpoint. Dreht er sich um, sieht er Har Gilo, eine israelische Siedlung, die er ebenfalls nicht betreten darf. Frei ist nur noch sein Ausblick auf die Häuser, die kargen, grau-grünen Felder mit Olivenbäumen. Und so könne er seine Schafe die meiste Zeit nur noch um das Haus herum weiden lassen, sagt Sarras, während er das Tor des Außenstalls schließt. Eine spezielle Hebe- und Ziehkonstruktion: „Die Schafe sind schlau, die bekommen das Gatter sonst auf“, sagt er und lacht.

Carlos Sarras ist ein kleiner, rundlicher Mann, seine Haut ist von der Sonne gebräunt. Er trägt Gummistiefel, an denen Erdklumpen und Schafköttel kleben. Es hat gestern Nacht geregnet, der Boden ist rutschig und aufgeweicht, die Luft noch feucht und nebelig. Seinen blauen, schmutzigen Anorak hat er nur in der Mitte über seinem runden Bauch zugeknöpft. Aber das Gesicht des alten Mannes zeigt, dass er gerne lacht, es ist ein freundliches Gesicht. Das haben ihm weder die harte Arbeit noch das Leben unter der Besatzung genommen.

Sarras stapft zurück in den Stall, um das Futter vorzubereiten. Früher sei er mit den Schafen noch herumgelaufen, erzählt er, manchmal bis ins Jordantal. Aber früher war ohnehin alles anders. Nur die gesellschaftliche Stellung der Hirten ist gleich geblieben, die war und ist niedrig. Man sagt zu den Kindern: Lerne brav in der Schule, sonst kannst du als Hirte auf den Feldern arbeiten. Ihre wichtigste Rolle haben die Hirten von Bethlehem offenbar tatsächlich in jener Nacht vor mehr als 2000 Jahren gespielt, als sie die Ersten waren, die von der Geburt Jesu erfuhren. Als sie nachts draußen auf den Feldern waren und ihre Schafe weideten und der Engel des Herrn zu ihnen kam und sprach: Fürchtet euch nicht. Sie sind den Worten des Engels gefolgt und haben Jesus in der Krippe gefunden, den Heiland.

Sarras, der selbst ein Christ ist, weiß selbstverständlich um die Bedeutung seines Berufsstandes in der Weihnachtsgeschichte. Ein wenig macht ihn die Rolle der Hirten auch stolz. Und vielleicht tröstet das ihn gelegentlich auch über die gegenwärtigen Bedrängtheiten hinweg. Von Jahr zu Jahr bleibt ihm für die Tiere weniger Platz, wird das Schafehüten zwischen Mauern und Straßen schwerer.

Oft stößt er mit den israelischen Siedlern zusammen, die in der Nähe seines Feldes leben. „Im Sommer kam einmal ein Mann mit einem Gewehr auf mich zu. Dann habe ich so gemacht“, sagt Sarras, streckt die Zunge raus und lacht. Aufgeben will er die Schafe nicht. Er sagt: „Von dem Moment an, als meine Mutter aufgehört hat, mir Milch zu geben, war ich mit den Schafen unterwegs.“ Die Leidenschaft ist auf seine acht Kinder nicht übergesprungen. Sie sind ausgewandert, bis auf Jamil, 21, der studiert in Bethlehem.

Dort, im Geburtsort Jesu, erhalten die Straßen und Gassen im Dezember ihren weihnachtlichen Glanz durch kitschige Nikoläuse, viel zu bunt geschmückte Tannenbäume und blinkende Lichter. Man erwartet hier wie immer zur Geburtsnacht Jesu tausende Touristen. Und während sich in Bethlehem der Brauch in jedem Jahr wiederholt, neigt sich im fünf Autominuten entfernten Beit Jalla der Brauch der Schafhaltung in Sarras’ Familie ganz still und leise von Jahr zu Jahr ein Stückchen weiter dem Ende zu.

Sein Großvater hatte schon Schafe, ebenso sein Vater. Die beiden Hirten hatten noch von der Zucht und vom Verkauf von Joghurt und Käse gelebt. Carlos Sarras konnte die Schafe nur noch als Hobby neben der Arbeit in einer Petroleumraffinerie und bei der Polizei in Jordanien halten. Damals ist er nur übers Wochenende nach Hause gekommen, doch die Schafe hat er nie aufgeben. Für seine acht Kinder kommt die Schafhaltung nicht mehr infrage. Seine Tochter Nadera, 32, ist Architektin und hat mehr als zehn Jahre in den Niederlanden gelebt. Jetzt ist sie zu Besuch bei den Eltern und muss mit anpacken, auch im Stall. Sie sagt: „Wenn mein Vater irgendwann einmal nicht mehr arbeiten kann, dann behalten wir vielleicht zwei, drei Schafe als Erinnerung.“

Und so geht es überall. Es ist der Untergang eines jahrtausendealten Berufsstandes, dessen Abbilder sich zu Weihnachten auf Milliarden Krippen weltweit wiederfinden, aber in der wirklichen Welt keinen Platz mehr haben.

Sani Ibrahim Azar, 50 Jahre alt, ist Pfarrer der arabisch-evangelischen Kirche im rund zehn Kilometer entfernten Jerusalem. Er wuchs in Bethlehem auf, bevor er nach München zog, um dort Theologie zu studieren. Dann kam er zurück ins Heilige Land, alle zwei bis drei Tage ist er in Bethlehem, seine Mutter lebt noch dort. „Gott ist in jener Nacht zu den Niedrigsten gekommen“, sagt er über die Stunden von Christi Geburt. Und dass niemand den gering geschätzten Hirten geglaubt habe, als die davon berichteten. Erst als Könige kamen und die Kunde bestätigten, da wurde sie geglaubt. Azar kennt auch die aktuelle Situation der Hirten. Viele hielten die Schafe nur noch rund ums Haus, sagt er. Wie Carlos. Und bei den Beduinen seien es heute Frauen, die sich um die Schafe kümmern. Die Männer müssten besser bezahlte Jobs annehmen. „Das Leben hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verändert“, sagt er.

Nicht nur durch die Besatzung, sondern auch durch die Modernisierung. Viele Häuser und Straßen wurden gebaut, der Verkehr hat zugenommen. Und mit der Arbeit in Israel, als Bauarbeiter oder Handwerker, verdienen die Palästinenser heute einiges mehr denn als Landwirte. „Manche machen Karriere, werden Ärzte oder Ingenieure.“ Aber noch gibt es auch einige Haushalte, die traditionell Käse, Milch und Joghurt von heimischen Hirten kaufen. Auch Azars Mutter will das so. Die Frauen der Hirten kommen ins Haus und bringen die Waren mit. Doch Milchprodukte werden zunehmend aus Israel importiert. „Die Israelis halten die Schafe in den Kibbuzim, das ist viel profitabler.“

Carlos Sarras hat selbst in der jordanischen Hauptstadt Amman Ingenieurwissenschaften studiert. Doch die Leidenschaft für seine Schafe hat er nicht verloren. „Schon früher als Schüler habe ich nachmittags meine Bücher mit zu den Schafen genommen und habe dort gelernt.“ Sarras verschwindet kurz in einen angrenzenden Schuppen und kommt mit einem weißen Eimer voller bordeauxfarbener Stückchen wieder. „Der Rest der Weinproduktion“, erklärt er. Die Stücke seien sehr gesund, und er bekomme sie sehr günstig von Winzern aus der Gegend. Sarras trocknet die Traubenkerne, -schalen und Stängel, denn spezielles Trockenfutter für die Tiere sei teuer. „Not macht eben erfinderisch“, sagt er.

Dass er seine Herde nicht mehr frei auf den Feldern weiden lassen kann, schmerzt ihn sehr. Und das, obwohl Sarras noch Land besitzt – allerdings rund 15 Kilometer von seinem Haus in Beit Jalla entfernt. Zu weit, um die Tiere mal eben grasen zu lasen. „Ich bewirtschafte noch knapp 30 Hektar Land“, sagt er und öffnet die Türen zweier angrenzender Schuppen. Etwas lichtscheu schauen ein Esel und ein Pferd aus den Türen. Sie zerren an ihren Ketten. Auch sie bekommen die Restprodukte der Weinproduktion. „Die Stute hilft mir auf dem Feld, beim Tragen und Pflügen. Aber gerade ist sie trächtig“, sagt Carlos.

Trotz seiner 75 Jahre arbeitet Sarras regelmäßig auf seinem Feld. Es liegt direkt neben der Grenze. Wenn die Israelis sehen würden, dass er dort nichts macht, liefe er Gefahr, sein Land zu verlieren. Denn es gilt eine alte Regel, dass unbewirtschaftetes Land nach einer bestimmten Zeit übernommen werden kann. Also muss Sarras schuften, damit er sein Eigentum behalten kann. Aprikosen, Äpfel und Trauben baut er hauptsächlich an.

Im vergangenen Sommer hat er seine Schafe auf den Anhänger geladen und sie auf seinem Acker grasen lassen. Im Winter allerdings, wenn es trüb und regnerisch ist, geht das nicht. Sarras schüttet die Traubenreste in die Futtertröge, dazu noch ein wenig Heu. Nur die Muttertiere mit ihren Lämmern bekommen das teure Spezialfutter. „Das ist doch verrückt. Die Israelis hindern uns mit ihren Mauern und Siedlungen daran, unsere Schafe auf den Feldern zu hüten. Und dann lassen sie uns ihr Futter kaufen.“ Er weiß, dass seine Tiere frisches Gras bräuchten. Deshalb ruft er regelmäßig den Tierarzt, der nachsehen soll, was den Schafen fehlt. Eines der Muttertiere hat derzeit eine Hauterkrankung, die Wolle fällt ihm am Rücken aus, deshalb bekommt es Medikamente und eine Salbe.

Ausgerechnet in dem Monat, in dem Jesus geboren sein soll, ist auch Hochsaison im Schafstall. Fast alle 53 weiblichen Schafe von Carlos sind trächtig oder haben schon geworfen. Carlos packt eines der vorbeirennenden schwarz-weiß-gescheckten Lämmer am Hinterbein und schaut es genau an. „Das ist ein Männchen. Die verkaufe ich. Die weiblichen Tiere behalte ich für die Zucht“, sagt Carlos und lässt das Kleine wieder zu seiner Mutter springen.

Später geht es für die Tiere wieder zurück in den Stall. Zuerst muss Carlos die drei Muttertiere mit ihren Lämmern einsammeln, die sich an seinen Aprikosenbäumen zu schaffen gemacht haben. Mit kleinen, wackeligen Schritten läuft Sarras auf die kleine Anhöhe, wedelt wieder mit seinem Ästchen in der Hand. Dann öffnet Sarras das Tor zum Außenstall. Die Tiere wissen, dass sie nun im Stall Futter erwartet. Sie huschen in den Stall und reihen sich um die Futtertröge.

Sarras steigt die Stufen zur Hintertür seines Hauses hoch. Er zieht die verdreckten Gummistiefel aus, steht kurz barfuß auf den kalten Küchenfliesen, schlüpft dann in seine Pantoffeln und nimmt am Küchentisch Platz. Pita, Oliven aus eigenem Anbau und eine cremige Paste mit Aubergine hat seine Frau Amal, 58, schon bereitgestellt. Sie schenkt noch heißen, süßen Tee in kleine Gläser und setzt sich dazu.

Wenn die Lämmer größer sind und die Schafe gemolken werden können, hat Amal hier viel Arbeit. Sie produziert dann Käse und Joghurt, hauptsächlich von Februar bis April. Viele aus Beit Jalla kaufen dann die Milchprodukte, auf die ihr Mann sehr stolz ist: „Die Leute kennen uns und wissen, dass wir ordentliche Ware und sehr sauber produzieren.“

Eines der Produkte ist ein traditioneller Joghurt, den man ursprünglich trocknen ließ, damit man ihn länger aufbewahren kann. Doch auch hier hat sich einiges verändert in den vergangenen Jahren. „Die Frauen tragen ja heute alle bunte Acrylnägel“, sagt Sarras. „Damit können sie den getrockneten Joghurt natürlich nicht mehr stundenlang so richtig kneten.“ Deshalb produzierten sie den Joghurt inzwischen nur noch flüssig. Außerdem hätten die meisten ihrer Kunden mittlerweile einen Kühlschrank.

Nach dem Essen zieht Carlos Sarras nicht noch mal seine Gummistiefel an, sondern seine normalen Schuhe, die für die Stadt. Er muss mit seiner Frau heute noch ein paar Dinge in Bethlehem erledigen. Auch Amal hat sich dafür umgezogen. Gemeinsam gehen sie zu dem weißen, kleinen Auto. Die Türen quietschen, überall liegt Heu. Wie lange Carlos Sarras die Arbeit seiner Ahnen, den Job als einer der letzten Schäfer von Bethlehem noch machen will, weiß er nicht. Er sagt „so lange es eben noch geht“ und lacht.

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