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Politik: "Ein Angriff auf Interessen, nicht Werte"

Sie selbst ist das beste Symbol dessen, was sie zu vermitteln sucht. Adrienne Clarkson ist seit 1999 das Staatsoberhaupt Kanadas.

Sie selbst ist das beste Symbol dessen, was sie zu vermitteln sucht. Adrienne Clarkson ist seit 1999 das Staatsoberhaupt Kanadas. Zumindest faktisch, denn offiziell ist es die britische Königin Elizabeth II, wegen der einstigen Kolonialbindung Kanadas. Clarkson, die den Titel Generalgouverneurin führt, vertritt die Queen in allen repräsentativen Pflichten und ist auch die Oberkommandierende der kanadischen Streitkräfte. Als Adrienne Poy wurde sie 1939 in Hongkong geboren. 1942 floh die Familie nach Kanada. Heute versteht sich die Kunsthistorikerin als Interpretin eines offenen, toleranten Landes - einer Gesellschaft, die aus einer Immigrantin das Staatsoberhaupt werden ließ.

Zum Thema Online Spezial: Terror und die Folgen Themenschwerpunkte: Gegenschlag - Afghanistan - Bin Laden - Islam - Fahndung - Bio-Terrorismus Fotostrecke: Bilder des US-Gegenschlags "Wir alle sind daran gewöhnt, in einer sehr komplizierten Gesellschaft zu leben", sagte Clarkson im Gespräch mit dem Tagesspiegel. Sie ist gerade in Deutschland. Am Mittwoch traf sie Bundespräsident Rau, am Donnerstag Kanzler Schröder. Ihre Botschaft, wenn sie sich die Bemühungen der Bundesrepublik um ein neues Verhältnis zu ihren Ausländern ansieht, lautet: Leitkultur, hier benutzt sie den deutschen Begriff, Assimilation und Integration schlössen sich nicht aus. Berlins Regierender Bürgermeister Wowereit hat ihr versichert, wie viel Respekt Berlin vor der Integrationsleistung des klassischen Einwanderungslandes habe.

Kanadas stolze Eigenständigkeit, gerade auch gegenüber dem großen Nachbarn USA, spricht aus jedem Wort Clarksons, wenn sie über die Folgen des 11. Septembers sinniert. "Die Kanadier fühlen sich nicht so tief bedroht wie die Amerikaner." War der Terror ein Angriff auf unsere gemeinsame Kultur? "Ich glaube nicht, dass es die Kanadier so sehen." Schock und Schrecken, Schmerz und Sympathie, das alles habe es natürlich auch in Kanada gegeben. Die Nähe zu den USA sei ja nicht nur eine geographische. Doch die Terrorakte hätten "im Grunde Symbolen gegolten, und es war sehr interessant, dass es Symbole wirtschaftlicher Interessen waren."

Dies sei in Kanada sehr genau registriert worden. Die Ziele der Attentäter seien "ja eben nicht die Harvard-Universität oder das Jefferson-Denkmal gewesen, es ging also nicht um die spirituellen Ideale der Vereinigten Staaten". Also nicht so sehr um Freiheit und Demokratie, jenen Werte-Kanon, den auch Kanada teilt. Kanadas Leitwert ist der seit den 70er Jahren auch verfassungsrechtlich verankerte Multikulturalismus. Noch in den 50er Jahren seien Nicht-Weiße als der kanadischen Staatsbürgerschaft unwürdig empfunden worden. "Das Hoffnungsvolle an unserem Land ist, dass wir uns so rasch entwickeln konnten. Das ist das Beispiel, das wir für viele Menschen sein können. Wir kennen einen großen Teil der Welt in unserem eigenen Land." Daher habe Kanada "keine raschen Anti-Immigranten-Reflexe", auch jetzt nicht, da vielerorts Moslems misstrauisch beäugt werden.

"Viele neue Immigranten kommen aus Somalia, Sudan, Eritrea, sehr schwierigen Gegenden dieser Welt, und das ist die Herausforderung: Auch diese Menschen zu integrieren." Clarkson glaubt nicht, dass die Globalisierung Identitätsverlust mit sich bringe und damit zum fundamentalistischen Terror beitrage. Politisch hat sich das offene und tolerante Kanada, das Clarkson preist, als Fürsprecher des Multilateralismus und der Friedensbewahrung erwiesen. "Wir gehören zu den Erfahrensten, wenn es um Blauhelm-Einsätze geht. Peacekeeping ist zu einem Bestandteil unserer Nationalkultur geworden." Sehr gefährlich und belastend sei diese Aufgabe dennoch.

"Wir sind gute Friedensbewahrer, weil wir Komplexität wahrnehmen", sagt sie, und auch dies kann als Seitenhieb auf die USA verstanden werden. "Wir verstehen, was Meinungsunterschiede sind. Ich glaube nicht, dass wir rasch urteilen. Wir reagieren nie dramatisch, wie es viele andere Länder tun. Wir sind Zuhörer, wir benehmen uns gut, weil wir bereit sind, uns geradezu zu verrenken, um eine andere Position zu verstehen." Verstehen andere westliche Gesellschaften Komplexität etwa weniger gut? Nein, über andere Länder könne sie nicht urteilen, antwortet Clarkson. Sie habe Kanada zu interpretieren, nicht zu vergleichen. "Kanadier mögen keine Gewalt. Wir sind friedliche Menschen - aber keine Pazifisten."

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