zum Hauptinhalt

Politik: Ein beispielloser Fall

Wie eine Staatsanwältin aus Frankfurt (Oder) nach dem Tod von Afghanen gegen einen Soldaten ermittelt

Von Sandra Dassler

Frankfurt (Oder) - So weit entfernt war ein Tatort noch nie. Rund 4 500 Kilometer Luftlinie trennen Kundus von Frankfurt (Oder) – und das ist nur eine Schwierigkeit, mit der Anette Bargenda bei ihrem neuesten Fall zu kämpfen hat. Die Frankfurter Staatsanwältin ermittelt gegen den Bundeswehr-Soldaten, der am 28. August südöstlich von Kundus auf ein Fahrzeug geschossen und dabei eine afghanische Frau und zwei Kinder getötet haben soll.

Anette Bargenda hat gerade das Revisionsverfahren um die neun toten Babys von Brieskow-Finkenheerd überstanden, nun steht sie wieder im Licht der Öffentlichkeit. Es ist das erste Mal, dass gegen einen Soldaten wegen Totschlags von Zivilisten im Auslandseinsatz ermittelt wird. Die 54-Jährige hat keine Fälle, an denen sie sich orientieren könnte. Sie hat außerdem keine Befugnis, in Afghanistan zu ermitteln, die Justiz befindet sich dort noch im Aufbau, die Rechtslage ist vielschichtig.

Und so stapeln sich in ihrem Büro im siebten Stock des Frankfurter Oderturms die Dokumente: UN-Charta, Resolutionen des UN-Sicherheitsrates, Bundestagsbeschluss für die Teilnahme an der „Operation Enduring Freedom“, Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Beteiligung bewaffneter Kräfte am Isaf-Einsatz. Sogar die Rede, die Verteidigungsminister Franz Josef Jung am 1. September bei der Trauerfeier für einen Bundeswehr- Soldaten hielt, hat sich Anette Bargenda besorgt. Schließlich wurde der Soldat bei einem Anschlag getötet, am Tag vor den Schüssen auf die Zivilisten.

„Für die Beurteilung des Falls gilt das Strafgesetzbuch – genauso, als wäre er in Deutschland passiert“, sagt sie: „Aber für die Einschätzung der Situation muss ich mehr wissen, bis hin zu den Einsatzregeln für die Soldaten. Nur dann kann ich nachvollziehen, was in dem jungen Mann vorging, als er sich entschied, zu schießen.“

Solange die Ermittlungen nicht abgeschlossen sind, will die Staatsanwältin nichts zu dem Vorfall sagen. Sie kommentiert auch nicht die bisherige Darstellung der Medien. Demnach näherten sich am Abend des 28. August zwei zivile Autos einem von afghanischen Polizisten und Soldaten sowie Mitgliedern des deutschen Feldjägerausbildungskommandos Masar-i-Scharif betriebenen Checkpoint. Nachdem die Fahrzeuge angehalten hatten, setzte sich eines wieder abrupt in Bewegung. Daraufhin feuerte der rund 100 Meter entfernte, zur Sicherung des Postens eingesetzte Bundeswehr-Soldat aus seinem geschützten „Dingo“ auf das Auto. Eine Frau und zwei Kinder starben, drei Kinder wurden verletzt. Es gibt Medienberichte, wonach im Auto 15 Menschen saßen und es weit mehr Tote hätte geben können. Die Rede ist von einer Hochzeitsgesellschaft, aber auch von Drogendealern und vielen Ungereimtheiten.

Einige Bundeswehr-Angehörige mit Afghanistanerfahrung meinen, dass es eine Schande sei, gegen den Soldaten zu ermitteln. Wenn im Fahrzeug Sprengstoff gewesen wäre und er nicht geschossen hätte, trüge er nun Mitschuld am Tod von Kameraden, sagen sie. Und erzählen Geschichten aus einer anderen Welt. Wie die von dem neunjährigen Mädchen, das sich mit einem Eselskarren einer Patrouille näherte und nicht auf Rufe, stehen zu bleiben, reagierte. Natürlich schossen die Soldaten nicht auf das Kind; und flogen wenig später mit ihm in die Luft. Sie berichten auch von dem ungeheuren Druck, dem man bei Einsätzen in Afghanistan durch die zunehmende Zahl von Terroranschlägen tagtäglich ausgesetzt sei.

Für die Frankfurter Staatsanwältin gehört all dies zur Einschätzung der Situation. Von vornherein auf Ermittlungen zu verzichten, hält sie für falsch. Die Bundeswehr, die sie bei ihrer Arbeit „ohne Wenn und Aber“ unterstütze, müsste sich dann den Vorwurf gefallen lassen, das sie etwas vertuschen wolle, sagt sie: „Außerdem prüfen wir ja wie stets nicht nur be-, sondern auch entlastende Momente. Sollte sich herausstellen, dass der Soldat keine Schuld trägt, stellen wir das Verfahren natürlich ein. “

Vernommen hat Anette Bargenda den Schützen noch nicht. Er befinde sich noch in Afghanistan, sagt sie, aber sie habe bereits Kontakt zu seinem Verteidiger. Mit dem Soldaten reden will sie erst, wenn sie sich ein vollständiges Bild über die Situation gemacht hat. Dabei greift sie vor allem auf Ermittlungen der Feldjäger am Tatort zurück. Vieles, was in Deutschland zu den normalen Ermittlungen gehört, ist in diesem Fall nicht möglich, beispielsweise die Obduktion der Opfer. „Als unser Rechtshilfeersuchen auf dem Fax lag, waren die Leichen schon beerdigt“, sagt der Sprecher der Potsdamer Staatsanwaltschaft Helmut Lange. Ihrem Glauben gemäß mussten die Opfer 24 Stunden nach dem Tod unter der Erde sein.

Die Potsdamer sind stets die Ersten, die bei Auslandseinsätzen ermitteln, weil es in Deutschland keine Militärstaatsanwaltschaft gibt und weil das Einsatzführungskommando der Bundeswehr in Geltow bei Potsdam sitzt. Nur bei Terroranschlägen schaltet sich sofort der Generalbundesanwalt ein. Ein Rechtshilfeabkommen mit Afghanistan gibt es nicht, nur eine „vertragsfreie Rechtshilfevereinbarung“. Praktisch läuft vieles über Verbindungsmänner des Bundeskriminalamtes.

Sobald geklärt ist, wo sich die Einheit des Beschuldigten befindet, geht das Verfahren an die dort zuständige Staatsanwaltschaft. So kam Anette Bargenda zu ihrem neuesten Fall. Der Soldat, gegen den sie ermittelt, ist in Storkow bei Frankfurt stationiert. Ob er auch aus Brandenburg stammt, verrät sie nicht. Nur, dass er in wenigen Tagen 27 Jahre alt wird.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false