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Politik: Ein Fall, viele Seiten

Berichte und Behauptungen zum Schicksal von Murat Kurnaz: Wem ist zu glauben?

Von Frank Jansen

Der Streit im Fall Kurnaz wird von Tag zu Tag heftiger, gleichzeitig nimmt allerdings auch die Verwirrung zu. Die Öffentlichkeit wird mit mehr oder minder geheimen Papieren und Analysen diverser Behörden konfrontiert. Bei einer unbefangenen Betrachtung ist indes keine unumstößliche Wahrheit zu erkennen. Mehrere Widersprüche bleiben unaufgelöst. Schon bei zwei zentralen Punkten zeigt sich, wie schwierig ein Urteil ist.

Der Terrorverdacht gegen Kurnaz. Der Leiter der Bremer Berufsschule, die der Türke besuchte, sagte 2001 dem Landeskriminalamt, Kurnaz habe sich im Jahr zuvor stark verändert. Der Pädagoge erwähnte Bartwuchs und muslimische Kopfbedeckung. Mitschüler hätten berichtet, Kurnaz habe einen Tarnanzug und ein Nachtsichtgerät gekauft. Seit Mitte September 2001, kurz nach den Anschlägen in den USA, sei Kurnaz nicht mehr in die Schule gekommen. Laut Bremer Verfassungsschutz wurde Kurnaz vom Vorbeter der Abu-Bakr-Moschee in Bremen radikalisiert und für die Teilnahme am Heiligen Krieg in Afghanistan rekrutiert.

Der Deutsch-Syrer Mohammed Haydar Zammar, der engen Kontakt zur Hamburger Zelle um Selbstmordpiloten des 11. September 2001 gepflegt hatte, berichtete 2002 in syrischer Haft von einem Treffen mit zwei Türken in Bremen. Zammar war der Name Kurnaz nicht bekannt, aber die Beschreibung eines Türken passe auf ihn, sagen Experten.

Am 3. Oktober 2001 reiste Kurnaz nach Pakistan. Acht Tage später eröffnete die Staatsanwaltschaft Bremen ein Ermittlungsverfahren gegen Kurnaz und andere Personen wegen des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung. Die Staatsanwaltschaft ging davon aus, Kurnaz habe sich den Taliban anschließen wollen. Das Verfahren wurde im Oktober 2002 wegen Abwesenheit von Kurnaz vorläufig eingestellt. Da befand sich der Türke bereits im US-Gefangenenlager Guantanamo, nachdem ihn 2001 Sicherheitskräfte in Pakistan festgenommen hatten.

Kurnaz berichtete deutschen Beamten, die ihn im September 2002 in Guantanamo befragten, von Kontakten zur Tablighi Jamaat (TJ). Experten zählen die islamistische Missionsbewegung zum Umfeld von Al Qaida. Ein Indiz: Der britische „Schuhbomber“ Richard Reid, der sich Ende 2001 in einer Passagiermaschine in die Luft sprengen wollte, war laut Verfassungsschutz Mitglied der TJ.

Gegen eine intensive Verbindung von Kurnaz zum Spektrum des islamistischen Terrors spricht, dass seine Reise nach Pakistan offenbar schlecht organisiert war. Von einer „stringenten Rekrutierung“ des Türken könne keine Rede sein, sagen Sicherheitsexperten. Dass Anfang 2002 der damalige Generalbundesanwalt Kay Nehm das Bremer Verfahren gegen Kurnaz nicht übernehmen wollte, spreche allerdings nicht gegen einen Terrorverdacht. Vielmehr habe die rechtliche Grundlage gefehlt. Der Paragraf 129 b, der die Mitgliedschaft in einer ausländischen Terrorvereinigung unter Strafe stellt, trat erst im August 2002 in Kraft .

Das Angebot der USA, Kurnaz zu entlassen. Die CIA habe den Türken als gefährliche Figur, aber nicht als Topterroristen eingestuft, sagen Sicherheitsexperten. Deshalb habe die CIA im Herbst 2002, offenkundig mit dem Einverständnis des damaligen US-Verteidigungsministers Donald Rumsfeld, das Risiko eingehen wollen, Kurnaz nach Deutschland zu entlassen – um ihn dort mit dem Verfassungsschutz als Spitzel zu führen. Angeblich in der Erwartung, Kurnaz könne von Bremen aus, ein Jahr nach den Anschlägen des 11. September unter Beteiligung der Hamburger Zelle, über die norddeutsche Islamistenszene berichten. Die Spitzeloperation sei Bedingung für eine Freilassung gewesen, sagen die Experten.

Einer der BND-Beamten, der im September 2002 Kurnaz in Guantanamo befragte, berichtete danach, bei der „US-Seite“ sei die „Vorentscheidung“ gefallen, Kurnaz bis November 2002 nach Deutschland zu entlassen. Außerdem habe Kurnaz „nichts mit Terrorismus, geschweige denn mit der Al Qaida zu tun“. Diese Darstellung findet sich auch im Schreiben, das vom BND-Leitungsstab im Oktober 2002 ans Kanzleramt ging. Experten bemängeln, dass die Skepsis der BND-Führung gegenüber der Darstellung des eigenen Beamten im Papier fehlte.

So wird eine argumentative Lücke in dem Geheimbericht erklärt, der im Februar 2006 dem Parlamentarischen Kontrollgremium zuging. In dem Geheimpapier heißt es nur, am 8. Oktober 2002 seien in der „Präsidentenrunde“ im Bundeskanzleramt die Chancen einer Spitzelaktion „sehr kritisch“ beurteilt worden. Später heißt es, „anlässlich einer Nachfrage der USA“, ob Kurnaz nach Deutschland oder in die Türkei abgeschoben werden sollte, habe die Präsidentenrunde den Fall am 29. Oktober 2002 erneut erörtert. „Es gab aber keine Nachfrage der USA, sondern nur des Bundesamtes für Verfassungsschutzes zu dem US-Vorschlag“, heißt es in Sicherheitskreisen. Das Resultat war wieder negativ. Weil Kurnaz, ein Sympathisant der Tablighi Jamaat, als gefährlich galt. Und eine gemeinsame Operation mit der unberechenbaren CIA als zu riskant. Der BND-Untersuchungsausschuss muss nun klären, welchen Papieren und Argumenten zu glauben ist.

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