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Politik: „Ein familienpolitischer Rückschritt“ Nach Ansicht des Sozialforschers Klaus Hurrelmann setzt das Betreuungsgeld haarsträubende Fehlanreize

Was halten Sie von einem Betreuungsgeld für Eltern, die ihre Kleinkinder nicht von einer Tagesmutter oder im Kindergarten betreuen lassen?Ich halte davon gar nichts.

Was halten Sie von einem Betreuungsgeld für Eltern, die ihre Kleinkinder nicht von einer Tagesmutter oder im Kindergarten betreuen lassen?

Ich halte davon gar nichts. Das Betreuungsgeld ist ein familien- und bildungspolitischer Rückschritt. In Deutschland ist die Kindererziehung ohnehin zu stark auf die Familie fixiert. Mütter und Väter, so glaubt man bei uns, wissen am besten, was gut für ein Kind ist und welche Unterstützung es benötigt. Das spiegelt sich auch im Grundgesetz wider: In Artikel sechs werden Erziehung und Pflege als das „natürliche Recht der Eltern“ bezeichnet. Entsprechend geht die finanzielle Unterstützung für Kinder vor allem an die Eltern.

Aber können Eltern nicht am besten entscheiden, was Ihre Kinder brauchen?

Alle Untersuchungen der letzten Jahre zeigen: In Deutschland lebt etwa ein Fünftel der Kinder und Jugendlichen in sozial angespannten Verhältnissen, ist von gesundheitlichen Beeinträchtigungen bedroht und kann seine Bildungspotenziale nicht voll entfalten. Die Ursachen hierfür liegen eindeutig im Elternhaus. Verfügen Mutter und Vater über ein sehr geringes Einkommen, haben einen niedrigen oder gar keinen Schulabschluss, sind im Arbeitsleben nicht fest verankert und auch in ihrer Nachbarschaft nicht integriert, dann strahlt das negativ auf die Entwicklung ihrer Kinder aus. Das Leben ist außerdem komplexer geworden. Ein Teil der Eltern ist hierdurch überfordert.

Was bedeutet das Betreuungsgeld für diese Familien?

Für wirtschaftlich benachteiligte Eltern sind die zunächst 100 Euro und später 150 Euro pro Monat viel Geld. Sie werden alles tun, um an dieses Geld zu gelangen. Das bedeutet: Sie werden ihr Kind nicht in eine öffentliche Bildungseinrichtung geben, sondern lieber zu Hause betreuen. Da werden solche Fehlanreize gesetzt, dass mir bei dem Gedanken daran die Haare zu Berge stehen.

Wie kann man diesen Kindern stattdessen helfen?

Es gibt das schöne afrikanische Wort: „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen“. Die Eltern müssen natürlich die Betreuung und Bildung ihres Kindes koordinieren. Aber sie brauchen Unterstützung durch Nachbarn, Verwandte, öffentliche Bildungseinrichtungen und Freizeit-, Sozial- und Gesundheitseinrichtungen. Kinder zu erziehen, sollte nicht als reine Privatsache der Eltern, sondern als öffentliche Aufgabe verstanden werden.

Wie kann das konkret aussehen?

Wenn Kinder in Deutschland Hilfe benötigen, müssen sie sich, meist zusammen mit ihren Eltern, selbst auf die Beine machen: zum Psychologen oder zum Sozialarbeiter. Das ist mit großen Hemmnissen verbunden. Wir brauchen mehr professionelle Helfer, die zum Kind kommen, in die Krippen, Horte, Kindergärten und Grundschulen. International hat sich außerdem bewährt, wenn finanzielle Zuwendungen an bestimmte Bedingungen geknüpft sind. So könnte man einen Teil des Kindergelds nur dann auszahlen, wenn die Eltern dies in die Bildung des Kindes investieren.

Ist die Familienförderung in Deutschland noch zeitgemäß?

Unser System ist vor allem auf die traditionelle bürgerliche Kleinfamilie ausgerichtet: Die Eltern sind verheiratet, der Vater sorgt durch seine Arbeit für den Broterwerb, die Mutter wird durch das Ehegattensplitting daran gehindert, voll berufstätig zu sein. Alle Familien, die von diesem Modell abweichen, haben Nachteile: Familien mit mehr als drei Kindern, Alleinerziehende, aber auch Doppelverdiener mit Kindern. Trotzdem gibt es heute immer mehr Familien, in denen beide Partner berufstätig sind. Sie tun das, obwohl wir es ihnen besonders schwer machen, weil es zu wenig Kinderbetreuungsplätze und zu wenig Flexibilität in den Betrieben gibt. Die Politik sollte sich stärker nach den Bedürfnissen dieser Familien richten.

Klaus Hurrelmann ist Professor für Public Health and Education an der Hertie School of Governance in Berlin. Das Interview führte Cordula Eubel.

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