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Politik: Ein Hoch auf die Freiheit

KANTS WELT

Von Kerstin Decker

Königsberg hatte in Kants Jugend im 18. Jahrhundert doppelt so viele Einwohner wie Berlin zur damaligen Zeit und besaß erhebliche Ähnlichkeit mit der islamischen Welt von heute. Strengste Zucht, keine Regung menschlichen Lebens, die die Religion nicht kontrollierte. Man lernte die „Ordnung des Heils in Tabellen“. Theateraufführungen und Tanz galten den Königsberger Pietisten als Teufelswerk. Der Professor für Dichtkunst an der Universität war weitgehend arbeitslos. Und die neueren Philosophen wie Descartes oder Wolff las man vor allem, um sie anschließend besser mit Aristoteles widerlegen zu können. Die religiösen Fundamentalismen ähneln sich immer und überall.

In diese Welt tritt ein kleiner Handwerkersohn, verkündet bereits in seiner ersten eigenständigen Schrift, dass nichts ihn und seine Gedanken aufhalten könne und zettelt im Folgenden eine geistige Kulturrevolution an, die die Welt noch nicht gesehen hat.

Vielleicht gibt es nur zwei kulturelle Zustände: einen, der durch Kant hindurchgegangen ist und einen, der ihn noch vor sich hat. Man lebt entweder vor oder nach der Aufklärung. Der Westen von heute ist Kants Welt. Kulturen sind Übertragungsphänomene. Darum ist auch jeder Durchschnittseuropäer, der noch nie eine einzige Zeile Kant gelesen hat, ein Kantianer, ohne es selbst zu wissen. Er hat einen Kant’schen Begriff der Wirklichkeit, ohne es zu wissen. Und er hat wahrscheinlich auch seinen Begriff der Moral.

Am 12. Februar vor zweihundert Jahren ist Immanuel Kant in Königsberg gestorben. Das Licht der Vernunft kam aus dem Osten! Eine Himmelsrichtung, mit der wir heute meist Irrlichter verbinden.

Wenn auf der Pilgerfahrt nach Mekka hunderte Menschen sterben, weil bei der „symbolischen Steinigung des Teufels" eine Massenpanik entsteht, wissen wir schlagartig, was in diesen letzten zweihundert Jahren bei uns geschehen sein muss. Teufel sind vor solchen Übergriffen bei uns ziemlich sicher. Nicht, weil wir mit ihnen im Bunde sind, sondern weil wir es uns abgewöhnt haben, mit ihnen als maßgeblicher Gegenwart zu rechnen.

Nur, weil ich etwas denken kann, muss es noch lange nicht existieren. Gott, Teufel oder Geister. Auch über die Unsterblichkeit der Seele oder die Unendlichkeit der Welt können wir nichts Sicheres wissen. In solchen Unterscheidungen liegt die Kant’sche Modernisierung der Vernunft. Sie ergab 1781 eines der berühmtesten und folgenreichsten Bücher der Philosophiegeschichte: „Die Kritik der reinen Vernunft“.

Kant bewies Autonomie und Freiheit als Voraussetzungen allen Denkens und Handelns. Die Regelung der menschlichen Beziehungen durch das Recht und die Regelung der internationalen Beziehungen durch das Recht, sogar die Idee einer Weltrepublik („Zum ewigen Frieden“) nahm er vorweg. Seine Entdeckung war, dass der Mensch in der Lage ist, nach Prinzipien zu handeln. Also nach etwas ganz und gar Unsichtbarem, jenseits von Verbot und Strafe. Nach einer geistigen Bestimmung: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht … : der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“

Die Unendlichkeit beider bringt ihn zu dieser Ehrfurcht. Freiheit ist der Grundbegriff. Sie lässt sich nicht beweisen, Kant weiß das. Wir können ihr nur gerecht werden.

Und hier beginnt, bei aller Kant-Nähe, auch unsere Kant-Ferne. Wahrscheinlich wären wir ihm doch sehr fremd gewesen. Dass die Ökonomie – seit Aristoteles nur die Kunst der Haushaltung, also nichts geistig Bedeutsames – einmal alles Denken und Handeln dirigieren würde, hätte er kaum verstanden. Ebenso wenig unseren Hedonismus.

Wir sind auf der Welt, um glücklich zu sein, glaubt heute fast jeder. Dann hätten wir gleich als Kühe auf der Weide stehen bleiben können, bemerkte Kant trocken. Wir sind auf der Welt, um des Glückes würdig zu sein. Autonomie ist keine Annehmlichkeit, sie bedeutet die unendliche Verantwortung des Einzelnen für sich selbst. Das Licht der Vernunft aus dem Osten hatte schon einen sehr strengen Glanz. Zurück zu Kant?

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