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Politik: Ein humaner Pragmatismus

Es geht also doch noch, und ausgerechnet beim Thema Zuwanderung wird es bewiesen. Die große Koalition ist in der Lage, sachlich angemessene Entscheidungen zu treffen – auch wenn es um ein Problem geht, das jahrelang wegen unüberbrückbarer ideologischer Gegensätze nicht zu lösen war.

Es geht also doch noch, und ausgerechnet beim Thema Zuwanderung wird es bewiesen. Die große Koalition ist in der Lage, sachlich angemessene Entscheidungen zu treffen – auch wenn es um ein Problem geht, das jahrelang wegen unüberbrückbarer ideologischer Gegensätze nicht zu lösen war. Sie ist fähig, einen vernünftigen Kompromiss zu finden – auch wenn der allen Beteiligten Zugeständnisse in der Sache abverlangt. Das ist ein gutes Zeichen.

Es geht um 120 000 Einwanderer, die seit Jahren geduldet, aber ohne Aufenthaltserlaubnis in diesem Land leben und gute Integrationschancen haben, wie es heißt. Gemeint sind Alleinstehende, die seit mindestens acht Jahren hier wohnen, oder Familien mit Kindern, die seit sechs Jahren hier sind. Es sind Menschen wie die Berliner Familie Ristic, die jahrelang keinen Handschlag tun durfte. Jugendliche wie die begabten Hamburger Brüder Mojitaba und Morteza Qalanawi, die Abitur machen, studieren wollen und bisher befürchten mussten, zuvor ausgewiesen zu werden. Menschen wie die Familie Bichinashvilli aus Georgien, die seit 10 Jahren im baden-württembergischen Hechingen lebt und die alte Heimat gegen eine neue eingetauscht hat. Sie alle wurden bisher nur geduldet. Sie durften nicht arbeiten und mussten jederzeit damit rechnen, herausgeworfen zu werden. Jetzt dürfen sie wohl bleiben – und arbeiten.

Aber es geht um mehr als die Einzelfälle, für die sich in den vergangenen Jahren eine immer breitere Öffentlichkeit eingesetzt hat. Es geht um das Prinzip, das endlich anerkannt wird: Deutschland ist ein Einwanderungsland. Die Bereitschaft, hier lebenden Einwanderern eine Aufenthalts- und Arbeitsmöglichkeit zu geben, ist ein Signal. Klar, der von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble und Vizekanzler Franz Müntefering ausgehandelte Kompromiss ist weniger spektakulär als Gerhard Schröders Greencard, mit der zur Jahrtausendwende Computerspezialisten aus aller Welt nach Deutschland gelockt werden sollten. Aber er ist menschlich angemessener und wahrscheinlich auch wirksamer.

Das, was nun auf dem Tisch liegt, ist aller Ehren wert: Deutschland akzeptiert die Tatsache, ein attraktives Zielland zu sein – nicht nur für politisch Verfolgte, die hier den Schutz einer demokratischen Gesellschaft suchen, sondern auch für Wirtschaftsflüchtlinge, die die Chancen einer erfolgreichen Marktwirtschaft nutzen wollen. Andererseits ist Deutschland inzwischen selbstbewusst genug zu definieren, was es nicht sein will: ein Land, dessen Sozialsysteme ein beliebtes Ziel von Migranten sind. Ob die Politiker unideologisch genug geworden sind, um diesen Unterschied klar vermitteln zu können, werden erst die kommenden Monate zeigen. Wir erinnern uns: Es war Jürgen Rüttgers, der heutige Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, der Schröders Greencard den Spruch „Kinder statt Inder“ entgegenschleuderte.

Wer bereits seit langer Zeit hier ist und glaubhaft gemacht hat, dass er ein guter Bürger dieses Landes werden will, soll nun endlich die Chancen nutzen können, die Deutschland zu bieten hat. Sie und er sollen sich um Arbeit bemühen dürfen, die Kinder sollen nicht nur zur Schule, sondern auch zur Universität gehen und anschließend hier arbeiten dürfen. Bundespräsident Horst Köhler hat einmal die hier lebenden legalen und illegalen Ausländer als den größten Schatz bezeichnet, den dieses Land hat. Er hat recht. Menschen, die hier leben, aber bisher kaum Aussichten hatten, von den wirtschaftlichen Potenzialen und den Aufstiegsmöglichkeiten zu profitieren, sind nicht nur ein Risiko. Sie sind eine Chance für eine schrumpfende Gesellschaft.

Für die Regierungskoalition wird es eine gute Woche, wenn dieser Kompromiss von den Innenministern akzeptiert wird. Die Einigung zeigt, dass Union und SPD den Stil wiederfinden können, der die guten Monate der Kanzlerschaft von Angela Merkel gekennzeichnet hat: Unaufgeregt wurden die Rente mit 67 und das Elterngeld auf den Weg gebracht. Das sozialpolitische Gewürge des Sommers um die verunglückte Gesundheitsreform hat das verschüttet. Hoffentlich nur vorübergehend.

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