zum Hauptinhalt
Tunnelblicke. In der Unterführung starben 21 junge Menschen.

© A. Sauerbrey

Ein Jahr nach der Loveparade: Das Trauerspiel von Duisburg

Ein Jahr ist die Tragödie nun her. Und die Entschuldigung liest Oberbürgermeister Sauerland vom Zettel ab. In seiner Rede zum Jahrestag der Loveparade steht in Klammern auch: Gedenkminute.

Von Anna Sauerbrey

Am 24. Juli 2010, dem Tag der Loveparade, muss Wolfgang Ballmann auf eine lieb gewonnene Gewohnheit verzichten. Ein wenig verdrossen stützt er sich um die Mittagszeit in seiner Wohnung auf die Fensterbank und schaut hinunter auf die Neudorfer Straße. Da unten wälzt sich die bunte Masse der Raver vom Osteingang des Hauptbahnhofs in Richtung des Festivals auf dem stillgelegten Güterbahnhof. Nicht daran zu denken, heute über die Straße zu kommen, rüber in seine Stammkneipe, auf ein Klönchen und ein Pils. Der pensionierte Baustellenkaufmann Ballmann ist 67 und geht am Stock. Und durch die Menge da, nee, da kommt er unmöglich durch.

Ein Jahr später, im Juli 2011, ist die Straße frei, und Ballmann sitzt am Tresen. Sein Stock lehnt in der Ecke unter dem Spielautomaten. Das Bierglas ist leer. Helmut Bockholt, der Wirt, schlurft zum Zapfhahn und lässt noch ein König Pilsener laufen. Man habe ihm geraten, damals, sagt er, den Laden besser dicht- zumachen. Alles kurz und klein schlagen würden diese Techno-Fans. Doch auf die jungen Leute lässt er nichts kommen. „Von wegen Chaoten. Sehr diszipliniert waren die.“ Bockholt stellt das halb volle Glas ab, lässt den Schaum sacken. „Aber wie ich die Züge kommen sah, dachte ich, du liebe Güte, das kann nicht gut gehen. Das war das organisierte Chaos! Die Polizei hat die Mädchen und Jungs da rein- getrieben!“

„Jedes Fußballstadion ist besser organisiert“, sagt Wolfgang Ballmann, mehr zu sich selbst, „aber der Sauerland, der wollte das ja unbedingt haben.“

Der Name des Duisburger Oberbürgermeisters bringt den Wirt in Rage. „Sauerland, Sauerland“, ruft er gegen das laute Umtata der Schlagermusik an. „Immer nur gegen den Sauerland. Ich gebe der Polizei die Hauptschuld. Wachablösung und so. Alles Ausreden.“

Duisburg, ein Jahr nach der Loveparade. Ein Jahr, nachdem in dem überfüllten Tunnel, der als Zugang zum Festivalgelände diente, bei einer Massenpanik 21 junge Menschen qualvoll erdrückt wurden. Es ist nicht so, dass sie hier in der „Lösch-Meile“ ständig darüber redeten. Die Stadt gönnt sich inzwischen längere Momente des Vergessens. Draußen vor der Kneipe scheint die Sonne, und wer frei hat und besser zu Fuß ist als Wolfgang Ballmann, fährt raus an die Sechs-Seen-Platte oder feuert im Schrebergarten den Grill an. Alles Schreckliche liegt unter sommerlicher Trägheit begraben. Aber nicht tief. In der „Lösch-Meile“ sind es manchmal Schlagzeilen, die die Loveparade wieder auf den Tresen heben: Bürgermeister nimmt nicht an Trauerfeier teil. Oder: Loveparade hätte nicht genehmigt werden dürfen. Und manchmal sind es Leute, die nach dem Weg zum kürzlich eingeweihten Mahnmal fragen. Stets aber verheddert sich die Diskussion an derselben Frage: Hätte der Duisburger Bürgermeister Adolf Sauerland nach dem Unglück zurücktreten müssen?

„Also ich“, sagt Ballmann, „hätte ihm gesagt: Nimm deinen Hut. Ist ja auch ’ne Sache der Ehre.“

Helmut Bockholt schnaubt. „Ich bin Demokrat“, sagt er. „Man kann nicht einfach so Menschen an den Pranger stellen, wenn noch gar nichts bewiesen ist.“

Vom anderen Ende des Tresens mischt sich ein weiterer Gast ein: „Ich steh da anders dazu. Wenn man das mitgekriegt hat, wie die Eltern Angst hatten um ihre Kinder. Wie kann man das abtun, als Oberbürgermeister, häh?“

„Und was der Sauerland für die Stadt gemacht hat, das will jetzt keiner mehr wissen“, gibt Bockholt zurück. Doch bevor das debattiert wird, übernimmt in der „Lösch-Meile“ wieder die Schlagermusik den Takt.

Tags darauf zur selben Zeit sitzt der Gegenstand des Disputs im großen Saal des gotischen Rathauses auf einem Podest, Sauerland, der CDU-Mann, der 2004 die seit 1948 währende SPD-Herrschaft brach. Vor sich eine Glocke mit Holzgriff zur Rechten, zur Linken der Aktenordner mit den Druckvorlagen für die letzte Ratssitzung vor der Sommerpause, es ist der 11. Juli.

Der Ordner ist prall gefüllt mit den kleinen und großen Problemen einer klammen Ruhrgebietskommune: Fällung von Bäumen zur Errichtung von Aufenthaltsräumen für die Freiwillige Feuerwehr, Beratungen über das Sozialticket für den ÖPNV, Änderung der Gebührenordnung für Parkscheinautomaten. Unten vor dem Rathaus hat sich eine Handvoll Betriebsratsmitglieder versammelt. Sie protestieren, weil 47 Kindergarten-Angestellte in Zukunft bei einer stadtnahen GmbH beschäftigt und für weniger Lohn an die Stadt Duisburg zurückverliehen werden sollen.

Lesen Sie mehr auf Seite zwei.

Sauerland ist trotzdem die Ruhe selbst. Er hat im vergangenen Jahr ganz andere Demonstranten gesehen, hat sich auspfeifen und mit Ketchup bespritzen lassen. Und dicke Aktenordner machen ihm ohnehin nichts, im Gegenteil. Zwischen Mitteilungsvorlagen und Bebauungsplänen liegt die Welt, in der er sich auskennt, die er beherrscht. Die Loveparade ist in dem Ordner als Drucksache 11-1240 abgeheftet. SPD, Grüne und Linke haben beantragt, eine jährliche Gedenkveranstaltung ins Leben zu rufen.

„Wir kommen also zum Tagesordnungspunkt 1, Loveparade“, sagt Sauerland. „Gibt es Wortmeldungen? Keine. Wer stimmt für den Antrag? Ich schaue mal rum. . . Gegenstimmen, Enthaltungen? Nein? Einstimmig so beschlossen. Also das nächste.“ Sauerland zieht das Jackett aus. Wenn es nur immer so einfach wäre mit der Loveparade.

In das Leben des Duisburger Oberbürgermeisters ist die Loveparade eingefallen wie der Fuchs in den Hühnerstall. Anfangs schien es, als habe sie darin nicht allzu viel am Leben gelassen. Sein langjähriger Freund, Johannes Langhoff, Pächter des Brauhauses in Duisburg-Walsum und einer der wenigen aus Sauerlands Umfeld, der redet, sagt, Sauerland habe nach dem Unglück zunächst unter Schock gestanden. Am Abend des ersten Tages nach dem Unglück sieht Langhoff Ausschnitte einer Pressekonferenz im Fernsehen. Jener Pressekonferenz, bei der Adolf Sauerland, der Veranstalter Rainer Schaller, ein Vertreter der Polizei und der Sicherheitsdezernent Wolfgang Rabe sich die Fragen zuschoben wie heiße Kartoffeln. Jener Pressekonferenz, bei der Sauerland mit gehetztem Blick und auf den Schläfen hervortretenden Adern immer wieder abwehrend beide Hände hebt und sagt: „Das kann ich nicht beantworten.“ Adolf Sauerland, den Langhoff dafür bewundert, wie schnell er jedes Thema drauf hat und dass er stets alle Fakten im Kopf hat. Langhoff greift zum Telefon und ruft Sauerlands Frau an. Sie erzählt, dass ihr Haus beschmiert wurde und sie die Kinder aus der Stadt geschafft haben. „Nervlich hängst du da doch am Fliegenfänger“, sagt Langhoff.

„Klar hängt man manchmal nervlich am Fliegenfänger“, sagt auch Sauerland kurz vor der letzten Ratssitzung. „Aber das muss man ertragen.“ Das Gehetzte ist über die Monate aus seinem Blick verschwunden. Er wirkt geschäftig. Ein geschulter Händedruck, dann eilt er voran in sein holzgetäfeltes Eckbüro und klickt schnell durch die Mails.

Wann er sich entschieden hat, im Amt zu bleiben, weiß er nicht mehr so genau. „Das war ein kontinuierlicher Prozess. Am Anfang gab es immer wieder Situationen, wo man sich gefragt hat, ob das richtig ist.“ Aber nachdem externe Gutachter die Stadtverwaltung entlastet hatten, habe er sich gesagt: „Dann musst du auch die Kraft haben, das mit den Kollegen und Kolleginnen durchzufechten.“ Die „externen Gutachter“, das sind die Anwälte der Kanzlei Heuking, Kühn, Lüer und Wojtek. 350 000 Euro kostete die Stadt das im September 2010 in Auftrag gegebene Gutachten, in dem die Anwälte feststellten, bei der Genehmigung seien keine Fehler gemacht worden. In einem Zwischenbericht der Staatsanwaltschaft von Anfang 2011, der zwei Wochen vor dem Jahrestag des Unglücks an die Presse gelangt, klingt das anders. Die Loveparade, so heißt es darin, hätte nicht genehmigt werden dürfen. Gegen Sauerland selbst wird bis heute nicht ermittelt. Im Fokus der Staatsanwälte scheinen neben dem damaligen Polizeieinsatzleiter und vier Mitarbeitern des Veranstalters vielmehr der Chef des Ordnungsamtes und der Chef des Bauordnungsamtes zu stehen. Doch Sauerland wird die politische Verantwortung zugeschrieben.

Fragt man Johannes Langhoff, wie Sauerland es geschafft habe, sich aus der Krise nach dem Unglück herauszuarbeiten, verweist er auf den Glauben des katholischen Oberbürgermeisters. Aber da ist noch etwas, ein neues Amtsverständnis, in das sich Sauerland, der einst volksnah auftrat, sortiert hat. Aus Sicht von Sauerland ist der ehrenamtliche Oberbürgermeister von früher nunmehr überholt und mit ihm die Zeit, in der große symbolische Gesten zum Portfolio gehörten. Heute ist der OB vor allem Chef der Verwaltung, ein Manager. Und der trägt erst dann politische Verantwortung, wenn seine Verwaltungsmitarbeiter nachweislich Fehler gemacht haben. Das können aber nur die Richter entscheiden, und ein Prozess hat noch nicht einmal begonnen.

„Mitarbeiter, Mitarbeiter“, sagt Monika Ayed verächtlich. „Hier geht es um die moralische Schuld.“ Der Zeigefinger der sportlichen Frau um die 50 durchlöchert die Luft zwischen ihr selbst und einer imposanten Dame, deren kurzes, schwarzes Haar von feuerroten Strähnen durchzogen ist und die beide Hände in die kräftigen Hüften stützt. Es ist jetzt die vierte Woche, in der Ayed beinahe täglich hier am Stand der Bürgerinitiative „Neuanfang für Duisburg“ steht. Im Mai hat der Düsseldorfer Landtag eine neue Gemeindeordnung verabschiedet, seither ist es möglich, den OB direkt abzuwählen.

Seit Mitte Juni sammeln sie hier in der Fußgängerzone, gleich vor der Zentrale des CDU-Ortsverbands, Unterschriften, etwa 63 000 müssen sie innerhalb von vier Monaten zusammenbekommen, um ein Abwahlverfahren in die Wege zu leiten. 20 000 haben sie schon.

Lesen Sie mehr auf Seite drei.

Ayeds Gegenüber wischt die Löcher in der Luft mit einer Handbewegung wieder zu. „Ich frage Sie“, sagt sie in einem Tonfall, der keinen Zweifel daran lässt, dass es sich um eine rhetorische Frage handelt. „Ich frage Sie: Haben Sie eigentlich heute Morgen Radio gehört? Die Staatsanwälte wissen schon, wer schuldig ist. Und ist der Herr Sauerland da genannt worden? Nein.“ Monika Ayed nickt. „Aber wenn Sie Chef einer Firma sind, sind Sie ja auch verantwortlich für alles, was da passiert“, antwortet sie und wiederholt noch einmal den Satz, der ihr am wichtigsten ist: „Es geht um die moralische Verantwortung.“

Auf der letzten Ratssitzung hat inzwischen Sauerland die verehrten Damen und Herren gebeten, sich kurz zu erheben. Er hat eine Erklärung vorbereitet, zwei Din-A4-Seiten, die möchte er nun verlesen. „Als Oberbürgermeister dieser Stadt trage ich moralische Verantwortung für dieses Ereignis. Es ist mir ein persönliches Bedürfnis, mich an dieser Stelle bei allen Hinterbliebenen zu entschuldigen.“ Für diesen Satz hat Sauerland fast ein Jahr gebraucht. Im Manuskript steht in Klammern dahinter: Gedenkminute. Sauerland senkt den Kopf. Emotionen zeigen in der Öffentlichkeit, das ist nicht seins. Er trenne klar zwischen dem privaten Menschen und der öffentlichen Person, sagt sein Freund Johannes Langhoff. Die öffentliche Person Sauerland spricht von „Herangehensweisen an den Trauerprozess“, als stünde das im Stadtentwicklungskonzept.

Gleich neben dem Rathaus, in der Salvatorkirche, der evangelischen Stadtkirche, schließt Pfarrer Peter Krogull die Tür zwischen Sakristei und Kirchenraum auf. Das Sommerlicht wirft bunte Flecken auf den hellen Steinboden. Neben dem Altar steht die Kerze, die während der zentralen Trauerfeier vor einem Jahr für die Opfer angezündet wurde, als Angela Merkel, Christian Wulff und Hannelore Kraft vorn in der ersten Reihe saßen. Oder besser: eine der Nachfolgekerzen. Die Gemeinde hatte sie ursprünglich nur bis zum Ewigkeitssonntag im November brennen lassen wollen, dann aber entschieden, dass der Zeitpunkt, die Trauer abzuschließen, noch nicht gekommen sei. „Es gibt in unserer Stadt, vor allen Dingen in ihrem politischen Leben, weiterhin eine große Armut an Worten und Gesten der Trauer, der Solidarität und der Verantwortung“, heißt es dazu in einer Erklärung. Die Sprachlosigkeit der Politik habe aber auch etwas Gutes gehabt, sagt Pfarrer Krogull. „Das hat dazu geführt, dass sich viele Menschen selbst auf die Beine gemacht haben. Das bürgerschaftliche Engagement ist gewachsen.“

Das Denkmal gewordene Bürgerengagement steht am östlichen Ausgang des Unglückstunnels. 21 fallende Stahlträger, die das sommerliche Vergessen durchbohren. 26 000 Euro hat eine Initiative dafür gesammelt. Viele Duisburger halten hier im Vorbeiradeln an, stellen das Fahrrad ab, nehmen den Helm ab.

„Die, die daran schuld sind, haben sie immer noch nicht“, brummt einer.

„Das Rostige, das passt irgendwie zu Duisburg“, sagt eine andere.

Meist aber herrscht Stille. Nur der Kies knirscht unter den Sportschuhen und Sandalen, und irgendwo kräht hier, mitten in der Stadt, zwischen Mietskasernen und Gebrauchtwagenhändlern, ein Hahn.

Könnte man es dabei belassen? Dass der Verwaltungschef verwaltet und die Bürger in Eigenregie trauern? Werner Hüsken, einer der Zornbürger und der Initiator des Abwahlantrags, kann das nicht. Ungeduldig hat er auf die neue Gemeindeordnung gewartet. In einer Nacht im Juni kommt der bärige Krankenpfleger von der Schicht nach Hause und fährt noch einmal den Rechner hoch. Da ist die neue Verordnung da.

Hüsken ruft die Seite der Duisburger Wirtschaftsbetriebe auf und klickt auf das Formular „Aufstellung / Änderung von Hausmüllbehältern“. „Herr Sauerland, es ist so weit“, schreibt er in das Kommentarfeld. Er fügt den Link auf das Gesetz hinzu und drückt auf „Senden“. Für Hüsken ist das eine Sache zwischen denen da oben und denen da unten. Immer wieder zitiert er den Duisburger Stadtdirektor Peter Greulich. Der soll gesagt haben, eine Protestbewegung wie in Stuttgart sei in Duisburg nicht möglich. Hüsken hat verstanden: Weil die Menschen zu arm sind, zu Hartz IV, zu unpolitisch. Das regt ihn auf. Er sagt: „Dem werd ich’s zeigen.“

In der „Lösch-Meile“ in der Nähe des Duisburger Bahnhofs macht Wolfgang Ballmann sich bereit zum Aufbruch, aber eine Sache muss er noch erzählen, von dem Mädchen. Wie er da vor einem Jahr so auf die Menge hinunterschaut, gefangen in der eigenen Wohnung, kreuzen sich ihre Blicke. Das Mädchen zückt eine kleine Kamera und macht ein Bild von ihm. Ballmann winkt. Das Mädchen winkt zurück. Dann verliert er es aus dem Blick. Später, als sie im Radio berichten, dass es Tote gab, denkt Ballmann: Hoffentlich war die Kleine mit der Kamera nicht dabei. „Hab’ ich nie rausgekriegt“, sagt er und drückt die Zigarette im Aschenbecher aus. „Wie auch.“ Er schüttelt den Kopf und setzt hinzu: „Traurich is’ nur, man kann die nicht zurückholen, die jungen Menschen.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false