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Politik: Ein Orkan zieht vorbei

Von Gerd Appenzeller

Nein, so schlimm kommt es wohl nicht, wie ein Berliner Boulevardblatt in genretypischer Übertreibungslust gestern vermeldete – der Hauptbahnhof ist eher nicht einsturzgefährdet. Beruhigender wird der Zwischenfall in der Orkannacht dadurch nicht. Es war einzig eine glückliche Fügung, dass sich auf der Treppe, die der herausgerissene, tonnenschwere Stahlträger traf, niemand aufhielt.

Das Sturmtief Kyrill hat alleine in Deutschland einen Milliardenschaden angerichtet, mehr als 40 Menschen fielen in Europa dem Orkan zum Opfer. Angesichts dieser Zahlen klingt die Feststellung fast makaber, das Unwetter habe die Region Berlin-Brandenburg weitgehend verschont. Aber richtig ist sie trotzdem. Die Meteorologen können uns vor drohenden Stürmen warnen, aber welchen Weg genau die Gefahr nimmt, entzieht sich ihrer Prognostik. Für uns war die Erfahrung neu, dass Wetterdienste für das ganze Land hohe und höchste Alarmstufen ausrufen. Die hurrikangeplagten Amerikaner leben damit, sich für Wirbelstürme zu wappnen, die dann, wenn sie Glück haben, an ihnen vorüberziehen. Da kann man sich, da sollten sich auch die Berliner nur freuen, wenn man glimpflich davon gekommen ist. 1999, als das Sturmtief Lothar mit zerstörerischer Kraft über das Land zog, verhallten Jörg Kachelmanns warnende Rufe noch ungehört. Diesmal war es anders.

Das war nicht die einzige neue Erfahrung, die die Deutschen gemacht haben. Noch nie hat wie am Donnerstagabend die Bahn auf ihrem gesamten Netz den Betrieb eingestellt. Vor Jahrzehnten konnte sie mit dem Werbespruch „Alle reden vom Wetter, wir nicht“ Sympathiepunkte sammeln. Die Sympathie hat sie immer noch verdient, die Bahn ist zuverlässig, und ihre Mitarbeiter haben angesichts des Chaos überlegt reagiert, soweit man das in einer solchen Situation überhaupt kann. Nicht die Bahn, das Wetter ist anders geworden seitdem. Der abstrakte Begriff Klimawandel hat Gesichter und Namen bekommen. Einer davon lautet Kyrill, weitere werden folgen.

Und noch etwas haben wir gesehen: Für viele Menschen hat der Orkan, der an uns vorüberzog, dennoch stattgefunden. In ihren Köpfen. Die Angst vor der scheinbar unausweichlichen Gefahr hat nicht nur Älteren, sondern auch Kindern zu schaffen gemacht. Da wirken die Katastrophenfilme nach, die wir gesehen haben, und die Medienberichte über frühere Sturmfluten und den Tsunami und Südostasien.

Auch die zwingend notwendigen Vorsichtsmaßnahmen mögen manchen eher verängstigt als beruhigt haben. Aber die Schulen, die den Unterricht ausfallen ließen und die Kinder nach Hause schickten, haben richtig und besonnen reagiert. Manches mag da improvisiert und deshalb genauso unsicher wie verunsichernd gewirkt haben. Aber insgesamt hat auch das geklappt, obwohl manche Eltern Gegenteiliges berichten.

Noch etwas funktionierte ordentlich: wir. Die meisten von uns haben die Stunden der Ungewissheit beherrscht durchgestanden oder durchgehalten. Es gab auf den überfüllten Flughäfen und im Menschengedränge der Bahnhöfe, soweit wir bislang wissen, keine Hysterie und keine egoistischen Durchsetzungsversuche. Stattdessen sah man viele Zeichen der Hilfsbereitschaft und des Miteinander. Offenbar verhalten wir uns nicht nur im Jubel einer Fußball-Weltmeisterschaft, sondern auch in Krisenlagen solidarisch. So etwas kann man nicht testen, aber es ist gut, es zu wissen.

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