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Politik: Ein Vorwurf, zwei Urteile

Türkische Justiz blamiert sich im Fall Eren Keskin

Die türkische Justiz hat sich bei der strafrechtlichen Verfolgung kritischer Äußerungen eine neue Blamage geleistet. Die erst vor kurzem wegen eines Interviews im Tagesspiegel verurteilte Menschenrechtlerin Eren Keskin wurde wegen einer einzigen Rede in zwei getrennten Verfahren vor zwei verschiedenen Kammern desselben Gerichts angeklagt – in einem wurde sie freigesprochen, in dem anderen wurde sie zu einer Haftstrafe verurteilt. „Das ist ein Justizskandal“, sagte Keskin am Dienstag in Istanbul. Türkische Rechtsexperten kritisierten das Vorgehen der Justiz nach dem umstrittenen „Türkentum“-Paragrafen 301 ebenfalls.

Keskin hatte vor sechs Jahren bei einer Rede in Köln das wirtschaftliche Engagement der türkischen Armee kritisiert – der Pensionsfonds der Militärs ist unter anderem in der Autobranche und im Bankensektor tätig – und den Militärs vorgeworfen, Frauen zu vergewaltigen. Vor zwei Kammern eines Gerichts im Istanbuler Stadtteil Kartal wurden darauf zwei verschiedene Prozesse gegen Keskin eröffnet. Nach dem Inkrafttreten des „Türkentum“-Gesetzes 2005 wurden beide Verfahren auf der Grundlage des Paragrafen 301 geführt, der die Beleidigung des „Türkentums“ und staatlicher Institutionen verbietet.

In dem einen Verfahren wurde die Menschenrechtlerin im Juli vergangenen Jahres freigesprochen, nachdem ein Gutachter ihr bescheinigt hatte, mit ihren Äußerungen im Rahmen der gesetzlich erlaubten Kritik geblieben zu sein. In dem anderen Prozess war Keskin bereits im März 2006 zu zehn Monaten Haft und einer Geldstrafe verurteilt worden, ein Urteil, das im vorigen Oktober vom Berufungsgerichtshof in Ankara aufgehoben wurde. In der Neuverhandlung des Falles in Kartal in der vergangenen Woche entschied der Richter, auf die geplante Neufassung des Paragrafen 301 zu warten. Er vertagte das Verfahren auf den 22. Mai.

In der Istanbuler Zeitung „Radikal“ kritisierten mehrere Rechtsexperten Kritik, die beiden Prozesse hätten zusammengelegt werden müssen. Der Anwalt Ergin Cinmen sagte, es sei bemerkenswert, dass der Paragraf 301 den Richtern so viel Ermessensspielraum einräume, dass es zu gegensätzlichen Urteilen kommen könne.

Die türkische Regierung will den Paragrafen ändern, um nationalistischen Staatsanwälten und Richtern die strafrechtliche Verfolgung kritischer Äußerungen zu erschweren. Keskin sagte dazu, sie sei für die vollständige Abschaffung des Gesetzes. Die beiden Urteile zeigten, wie willkürlich der Paragraf 301 angewendet werde. Nach Angaben des Justizministeriums wurden in den vergangenen fünf Jahren 1481 Prozesse auf der Basis des Paragrafen 301 und eines Vorgängergesetzes eröffnet; von rund 6000 Angeklagten wurden 754 verurteilt.

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