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Politik: Ein weites Feld

Zypern, Landwirtschaft, Justiz: Die größten Schwierigkeiten bei den Verhandlungen

Mit einem spektakulären Reformprogramm hat die Türkei in den vergangenen Jahren aufgewartet, um näher an die EU zu rücken. Und doch waren die dramatischen Veränderungen – von der Abschaffung der Todesstrafe bis zur teilweisen Entmachtung der Militärs – nur erste Schritte auf dem Weg zur Europareife. Wenn am 3. Oktober die Beitrittsverhandlungen beginnen, wird der ganze türkische Staat auf den Prüfstand gestellt. Dabei wird sich sehr schnell zeigen, wie viel Arbeit Ankara noch vor sich hat.

Einer der schwersten Brocken ist die Landwirtschaft. In Europa arbeiten nur fünf Prozent der Beschäftigten in diesem Sektor, in der Türkei sind es 34 Prozent – in absoluten Zahlen siebeneinhalb Millionen Menschen. Die Produktivität ist niedrig: Trotz der hohen Zahl der Beschäftigten muss die Türkei landwirtschaftliche Güter einführen, um ihren Bedarf zu decken. Viele Menschen auf dem Land sind bitterarm. Wie moderne Agrarbetriebe entstehen sollen, weiß heute noch niemand.

Von der türkischen Verwaltung ist bei der Überwindung dieser Schwierigkeiten keine große Hilfe zu erwarten. Mehr als zwei Millionen Beamte leistet sich der türkische Staat, doch von einer effektiven Verwaltung ist das Land weit entfernt. Selbst in den Abteilungen großer Ministerien werde das Geld für Projekte und Ausstattungen häufig nicht nach fachlichen Kriterien verteilt, sondern nach anderen Gesichtspunkten wie familiären Verbindungen, klagen Insider, die lieber ungenannt bleiben möchten.

Geeignete Kontrollinstanzen zur Eindämmung solcher Missstände sind Mangelware in der Türkei. Die Justiz ist ohnehin völlig überfordert. Es fehlt an Richtern, Staatsanwälten und sogar an Gerichtsgebäuden. Trotz mehrerer Reformen gehört die Justiz außerdem zu den reformfeindlichen Bollwerken in der Türkei. Das zeigte sich erst in der vergangenen Woche, als ein Istanbuler Verwaltungsgericht eine wissenschaftliche Konferenz zur Armenierfrage verbot, weil die Richter eine Diskussion über den vom türkischen Staat abgelehnten Völkermords-Vorwurf verhindern wollten. Nach wie vor haben türkische Polizisten, denen die Folterung von Häftlingen vorgeworfen wird, vor Gericht nur wenig zu befürchten.

Reformfeindliche Kräfte in der Justiz, Behördenwillkür und das Zögern des Staates auf einigen Gebieten machen zudem den Minderheiten in der Türkei das Leben nach wie vor schwer. So erhielten die Kurden in den vergangenen Jahren zwar das Recht auf eigene Sprachkurse – ein Jahr nach Eröffnung des ersten Kurses gibt es mittlerweile aber keinen einzigen Kurs mehr. Mitschuld daran ist die staatliche Gängelung, sagt Zana Farqini vom Kurdischen Institut in Istanbul: „Für Kurdischkurse gelten viel strengere Auflagen als für Fremdsprachen wie Englisch, Deutsch oder Französisch.“

Auch die Christen in der Türkei haben trotz aller Reformen für die EU der vergangenen Jahre noch gewaltige Probleme. So haben kirchliche Gemeinden nach wie vor keinen eigenen Rechtsstatus; die griechisch-orthodoxe Priesterschule in Istanbul ist und bleibt geschlossen.

Doch selbst wenn Reformen umgesetzt werden, kann das viele Probleme nach sich ziehen. Ein Beispiel dafür sind die absehbaren Entwicklungen im türkischen Pharmasektor, in dem der Kampf gegen die Produktpiraterie bereits begonnen hat. „Die türkischen Hersteller werden im Verlauf der Beitrittsverhandlungen die Lizenzbedingungen erfüllen müssen, wodurch unausweichlich die Kosten für Medikamente in der Türkei steigen werden“, erläutert Kemal Kirsci von der Istanbuler Bosporus-Universität. „Das wird dann wiederum eine neue und schwere Last für das türkische Gesundheitssystem bedeuten.“

Die innen- und wirtschaftspolitischen Probleme verblassen jedoch im Vergleich zur größten außenpolitischen Herausforderung für die Türkei im Beitrittsprozess: das Zypern-Problem. Die international anerkannte griechische Inselrepublik wird als EU-Mitglied im Lauf der nächsten Jahre viele Gelegenheiten haben, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei per Veto zu stoppen. Statt gemeinsam nach einer Lösung für Griechen und Türken auf der seit 1974 geteilten Mittelmeerinsel zu suchen, belauern sich die griechischen Zyprer und die Türkei misstrauisch. Kompromisse gelten als Niederlagen, neue Ansätze für eine Lösung sind nicht erkennbar.

„Das Klima ist völlig vergiftet“, sagt ein Beobachter in Ankara. Die Türkei befürchtet, dass die griechischen Zyprer ihre EU-Mitgliedschaft in den kommenden Jahren benutzen werden, um türkische Zugeständnisse zu erpressen. Die ohnehin schwierigen Beitrittsverhandlungen werden dadurch noch dorniger, ist sich der Diplomat sicher: „Das wird ein unerfreuliches Gehacke.“

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