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Politik: Ein wertvolles Jahr

Von Ursula Weidenfeld

Vor einem Jahr im April, da schaute die Jugend der Welt auf den Petersplatz in Rom. Sie betete und sie weinte. Papst Johannes Paul II. starb, in seinem Leiden und seinem Tod prägte er die Welt vielleicht mehr als in all den Jahren zuvor. Vergessen war sein Dogmatismus, verziehen seine Unnachgiebigkeit den liberalen Christen Westeuropas gegenüber. Was zählte, war seine Haltung den Menschen und vor allem den Jugendlichen gegenüber.

In diesem Jahr im April, da ist die Jugend Europas auf den Barrikaden. In Frankreich demonstriert und randaliert sie, weil sie sich nicht angehört und nicht geachtet fühlt. In Berlin zertrümmert sie eine Schule und mit ihr die Zuversicht, dass es doch ein gemeinsames Wertefundament gibt, auf das bei allem Zweifel immer noch Verlass ist. Nur ein Jahr liegt zwischen diesen Ereignissen, unterschiedlicher könnte sich ein Tag im April kaum anfühlen.

Ist sie schon wieder vorbei, die allgemeine Besinnung auf Werte und auf Gott? Stimmte nichts von dem, was das letzte Jahr mit Weihrauch und Gepränge, mit heiligem Zauber und großer Geste beschworen hat – der Respekt der Generationen, die Sehnsucht nach glaubwürdigen Führungsfiguren, die Suche nach mehr als materiellem Wohlstand, die neue Ernsthaftigkeit? Klar, es sind nicht dieselben Jugendlichen, die damals weinten und die heute protestieren. Für die christlich orientierten Jungen hat das öffentliche Sterben des Papstes mehr verändert als für alle anderen. Sie haben in der Osterzeit des vergangenen Jahres ein Gefühl dafür bekommen, wie es ist, wenn man öffentlich zu seinem Glauben steht. Ein Gefühl, das sich zum Weltjugendtag und dem Besuch des neuen Papstes in Köln wieder aufrufen ließ, und das sich voraussichtlich auch in diesem Herbst wiederholen wird, wenn Papst Benedikt XVI. nach Bayern kommt. Mit diesen Großereignissen ist die Kirche in die europäische Öffentlichkeit zurückgekehrt, sie hat sich neu verankert – und wenn sie Glück hat und klug handelt, wird sie das noch viele Jahre tragen. Benedikt sucht und tastet zwar, wo Johannes Paul mit seiner Frömmigkeit zuversichtlich ausschritt. Der deutsche Papst denkt und glaubt, wo Johannes Paul fühlte und glaubte. Doch der Intellektuelle auf dem Stuhl Petri verwaltet das Erbe des Mystikers nicht nur, er mehrt es durch Gesten, etwa wenn er den abtrünnigen Theologen Hans Küng empfängt und das Gespräch mit ihm sucht. Und er wandelt es durch kluge Zeichen des Verständnisses, wenn er seine erste Enzyklika unter der Überschrift der Liebe formuliert, die doch am Ende alles verzeiht.

Die Zahl der Kirchenaustritte ist im vergangenen Jahr deutlich zurückgegangen. Die Eintritte nehmen zu, die Erwachsenentaufen ebenfalls. Es ist wieder schick zu glauben in Deutschland. Es ist auch ein bisschen bourgeois. Schließlich schickt man die Kinder nicht nur wegen der Werte gern in die konfessionelle Schule oder die christliche Jugendgruppe. Man nimmt es gern in Kauf, dass sie da hübsch unter sich bleiben – und trotzdem alles tolerant, gutmenschlich und politisch korrekt ist.

Doch auch für die, die sich nicht vom abendländischen Glaubenscomeback anstecken lassen, hat sich die Welt durch den Tod Johannes Pauls II. verändert. Es hat eine vorsichtige und erstaunlich offene Debatte begonnen über das, was die Gesellschaften Westeuropas ausmacht – und was sie ausmachen sollte. Das hat auch mit den Aufwallungen des Aprils 2005 zu tun. Mit der Demonstration von Rom hat auch jenseits des katholischen Kosmos das Selbstbewusstsein zugenommen, die eigenen Werte, die eigenen Traditionen und die eigenen Rituale ernst zu nehmen und sie zu verteidigen. Die Verschwommenheit des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts ist zu Ende gegangen. Was aber genauso zählt, ist die Haltung den Menschen gegenüber. Diese Tage im April zeigen, dass man auch von einem Toten viel lernen kann. Ob man glaubt oder nicht.

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