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Politik: „Eine eigene Armee für die Demokratie“

Der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr, Ulrich de Maizière, über die Anfangsschwierigkeiten und die Streitkräfte heute

Herr de Maizière, die Gründung der Bundeswehr jährt sich zum 50. Mal. Ist das für Sie ein Anlass zur Genugtuung?

Der frühere Verteidigungsminister und Bundeskanzler Helmut Schmidt hat einmal die Aufstellung der Bundeswehr als ein Verfassungsexperiment bezeichnet, das gelungen ist. Ich füge hinzu, die Bundeswehr hat sich bei allen ihr übertragenen Einsätzen im In und Ausland bewährt. Das ist Grund zur Genugtuung.

Ist die Demokratie des 21. Jahrhunderts immer noch auf Wehrhaftigkeit angewiesen?

Streitkräfte verhindern, dass der eigenen Regierung ein fremder politischer Wille von außen aufgezwungen wird. Anders ausgedrückt: Ein Staat ohne Streitkräfte ist nur bedingt politikfähig. Das gilt auch für Demokratien.

Kleine, flexible Einsätze weltweit wie auf dem Balkan, in Afghanistan, den Vereinigten Arabischen Emiraten oder in Sudan sind die aktuellen und zukünftigen Aufgaben der Truppe. Haben Sie sich damals eine solche Entwicklung träumen lassen?

Zu meiner Amtszeit befand sich Europa auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges. Eine andere Aufgabe als Abschreckung und, wenn nötig, Verteidigung des Nato-Territoriums, konnte man sich kaum vorstellen.

Ist die Wehrpflicht nach dem Ende des Kalten Krieges nicht überholt?

Ich bin ein überzeugter Anhänger der Wehrpflicht. Es gibt dafür eine Vielfalt sicherheitspolitischer, militärfachlicher und gesellschaftlicher Gründe. Für mich ist es besonders wichtig, dass die Streitkräfte durch die Wehrpflicht in die Gesellschaft eingebunden bleiben. Ich sähe es ungern, wenn die Gesellschaft ihr unmittelbares Interesse und ihre eigene Betroffenheit an sicherheitspolitischen Fragen vernachlässigen würde, weil man sich ja für militärische Fragen dann eine zuständige Berufsorganisation hält.

Wie könnte es für die Truppe ohne Wehrpflicht weitergehen?

Mit Sicherheit würde die Bundeswehr noch einmal verkleinert werden müssen. Sie hat jetzt schon Schwierigkeiten, ihre 200000 Soldaten auf Zeit zu rekrutieren. Eine große Zahl der länger Dienenden kommt heute aus dem Kreis der Wehrdienstleistenden. Geld wird nicht gespart. Ein länger dienender Soldat ist teurer als ein Wehrpflichtiger. Aufgrund der Erfahrungen unserer Verbündeten wird ein Qualitätsverlust wahrscheinlich sein. Das Ergebnis wäre eine kleinere, teurere, aber kaum bessere Armee.

Wenn Sie zurückblicken, hat es der Demokratie gut getan, dass sie von Wehrpflichtigen durchzogen war?

Dessen bin ich mir sicher.

Mit dem Wandel in der Bundeswehr von der Präsenz- zur Einsatzarmee hat sich das Image der Bundeswehr verbessert. Wie erklären Sie sich das?

Ganz einfach. Mein Eindruck ist, die heutige Armee erfüllt konkrete, für jeden erkennbare Aufgaben. Über sie wird in den Medien häufiger und meist positiv berichtet. Die Aufgabe der Bundeswehr bis 1990 dagegen bestand darin, durch hohe Präsenz- und Einsatzbereitschaft den Frieden gegen einen potenziellen Angreifer zu erhalten. Das ist nach außen hin weniger spektakulär erkennbar, aber dennoch ein erfolgreicher Dienst an unserem Staat.

Eine der wesentlichen Errungenschaften beim Aufbau der Bundeswehr war das Konzept der Inneren Führung. Die Rechte eines Staatsbürgers sollten auch bei der Bundeswehr gelten, solange sie nicht mit dem militärischen Auftrag kollidierten. Sie waren neben den Grafen Kielmansegg und Baudissin geistiger Kopf des Konzepts. Was war Auslöser dafür?

Eine junge und kaum gefestigte parlamentarische Demokratie schuf sich eigene Streitkräfte aus eigenem Entschluss. Rechte und Pflichten der Soldaten und das Verhältnis zu Untergebenen mussten den Grundsätzen des Grundgesetzes gerecht werden. Die Prinzipien der Menschenwürde und Freiheit waren mit der unverzichtbaren militärischen Ordnung und dem Prinzip von Befehl und Gehorsam zu einer neuen Lösung zusammenzuführen. Daraus entwickelte sich schrittweise das Konzept des Staatsbürgers in Uniform und der Inneren Führung.

Nun erlebte die Bundeswehr während ihrer gesamten Geschichte Krisen. 1957, zwei Jahre nach ihrer Gründung ereignete sich ein tragisches Unglück in der Iller. Trotz ausdrücklichen Verbots wurde in dem Fluss eine Übung durchgeführt. 15 Soldaten kamen ums Leben. Als Staatsbürger in Uniform hätten sie den Befehl für dieses tödliche Unterfangen verweigern können. Gab es Schwierigkeiten, die Bedeutung dieser sehr abstrakten Begriffe zu vermitteln?

Wie jedes neue Konzept brauchte auch die Innere Führung Zeit, um von den Vorgesetzten aller Ebenen immer richtig verstanden, akzeptiert und realisiert zu werden. Dieses zu erleichtern, war in den ersten Jahren eine der Hauptaufgaben der Schule für Innere Führung. In der Tat hat es am Anfang einige schwere Verstöße gegeben. Die jungen Fallschirmjäger beim Iller-Unglück haben auch deshalb gehorcht, weil der befehlende Unteroffizier vorweg selbst durch die Iller gegangen ist. Das Ganze war ein schwerer Verstoß, da gab es keinen Zweifel.

Das jüngste Beispiel für Schwierigkeiten der Inneren Führung ist Coesfeld. Nur zufällig wurde publik, dass Soldaten misshandelt wurden. Woran krankt Ihres Erachtens die Umsetzung der Inneren Führung?

Wie in allen großen Organisationen gibt es auch in der Bundeswehr immer wieder Missgriffe. Die Berichte des Wehrbeauftragten belegen das. Aber es handelt sich in der Regel um Einzelfälle. In Coesfeld gab es einen Verstoß gegen die bestehenden Ausbildungsregeln. Zu erklären sind sie aus der Absicht der Ausbilder, eine möglichst realistische und einsatznahe Ausbildung zu betreiben. Doch haben sie dabei das sinnvolle Maß überschritten.

In welcher Hinsicht ist das Konzept reformbedürftig?

Die Innere Führung haben wir als ein dynamisches Konzept gesehen. Unter Beibehaltung der unverzichtbaren Grundlage gibt es laufend Anpassungsbedarf. Ich denke zum Beispiel an die Zulassung von Soldatinnen in allen Funktionen, den Einsatz in anderen Ländern in einem anderen kulturellen Umfeld, die multinationale Zusammenarbeit auf sehr niedriger Ebene, das Leben im Lager bei eingeschränkter Freiheit in der Freizeit. Dafür muss es neue Verhaltensregeln geben.

In welchen Punkten ist die Innere Führung unumstößlich?

In der Priorität der Freiheit vor der militärischen Hierarchie. So hat es das Soldatengesetz auch formuliert. Der Soldat erhält alle staatsbürgerlichen Rechte, sie dürfen nur eingeschränkt werden, soweit es militärische Erfordernisse bedingen und dann nur durch Gesetz. Diese Regel ist unumstößlich.

Hatte die Bundeswehr bei ihrem Aufbau überhaupt eine Chance, sich von der Wehrmacht abzusetzen?

Man erzählt sich, dass Bundeskanzler Adenauer bei einer Pressekonferenz in Paris gefragt wurde: „Werden die Generale Adolf Hitlers auch die Generale der Bundeswehr sein?“ Keine bequeme Frage. Adenauers Antwort lautete nach kurzer Pause: „Ich glaube, dass mir die Nato keine 18-jährigen Generale abnehmen würde.“ Genau das war das Problem. Die Bundeswehr konnte, wenn man sie zu diesem Zeitpunkt aufstellen wollte, nur mit ehemaligen Wehrmachtsangehörigen aufgebaut werden. Nach zehnjähriger militärloser Zeit gab es keine anderen militärisch ausgebildeten Männer, vielleicht mit Ausnahme des kleinen, im Aufbau befindlichen Bundesgrenzschutzes. Aber es fand eine eingehende Überprüfung jedes einzelnen Bewerbers statt. Alle Offiziere vom Oberst an aufwärts bedurften der Zustimmung eines vom Bundestag bestätigten unabhängigen Personalausschusses.

Wenn es keine personellen Erneuerungen geben konnte, wie sahen sie inhaltlich aus?

Oberbefehl eines Politikers, konsequente parlamentarische Kontrolle und das Konzept der Inneren Führung waren die neuen Inhalte. Die Soldaten sollten im Gegensatz zu früher politisch bewusst denken lernen. Nicht im parteipolitischen Sinne, sondern in der Anerkennung der freiheitlichen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes, für die sie ja auch einzutreten hatten.

Fiel ihnen das schwer?

Für diejenigen, die sich das ausgedacht hatten, war es nicht schwer. Es war schon schwierig, den neuen Soldaten diese Grundsätze zu verdeutlichen und sie davon zu überzeugen.

Welche Traditionen wurden aus der Wehrmacht in die Bundeswehr übernommen?

Die handelnde Rolle der Soldaten der Wehrmacht im Widerstand gegen Adolf Hitler ist ein wichtiger Teil der Tradition in der Bundeswehr. Das Gewissen widersteht dem Gehorsam, wenn Befehle Recht und Menschenwürde brechen sollten. Zu den überlieferten und unverzichtbaren Tugenden der Soldaten gehören treuer Dienst, Tapferkeit, Gehorsam, Kameradschaft, beispielhaftes Verhalten von Vorgesetzten, Fürsorge für die Untergebenen. Sie sind heute gesetzliche Pflichten.

Jugendverbände, Gewerkschaften, evangelische Kirche sprachen sich gegen die Bundeswehr aus. Wie gingen Sie damit um?

Wir haben uns der öffentlichen Diskussion gestellt. Wir haben geworben. Es war ein zähes Ringen, auch Politiker haben sich ihr gestellt, wenn manchmal auch zögernd. Bundeskanzler Adenauer aber war fest in seiner Haltung.

Waren Sie als überzeugter Soldat begeistert, dass es die Möglichkeit gab, den Dienst an der Waffe zu verweigern?

Ich habe die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen von Anfang an akzeptiert. Leider ist die Gewissensentscheidung immer mehr in den Hintergrund getreten. Für viele junge Männer heute ist es nur noch eine Frage der Zweckmäßigkeit, sich für Wehr- oder Zivildienst zu entscheiden.

Wie war das Zusammenspiel mit den Alliierten in den Jahren des Aufbaus?

Es lag im Interesse der Deutschen wie der Alliierten, die Verteidigung Mitteleuropas zu stärken. Weder die westlichen Besatzungsmächte allein, noch Deutschland allein hätten die Bundesrepublik gegen einen Angriff der Sowjetunion und ihrer Verbündeten verteidigen können. Wir waren daran interessiert, dass die Besatzungsmächte in ausreichender Stärke blieben. Die Besatzungsmächte waren daran interessiert, dass die Deutschen ihr Potenzial in ein Verteidigungsbündnis einbrachten. Aus der Gleichheit dieser sicherheitspolitischen Interessen ergab sich von Anfang an eine gute Zusammenarbeit vor allem mit den Angelsachsen. Die Franzosen verhielten sich zögernder. Man muss das aus der Geschichte heraus verstehen. Die Franzosen bestanden auf einer Einbindung neuer deutscher Streitkräfte in ein übergeordnetes Bündnis. Wir haben dem zugestimmt, solange dies auf der Basis der Gleichberechtigung geschah.

In den 50er und 60er Jahren kam es zu schweren Krisen in Ungarn und der damaligen Tschechoslowakei. Wie haben sie sich auf die Bundeswehr ausgewirkt?

Es handelte sich hier um Krisen im Warschauer Pakt, von denen keine kurzfristige, unmittelbare Bedrohung für NatoStaaten ausging. Aber sie haben deutlich gemacht, dass die Sowjetunion bereit war, militärische Mittel einzusetzen, wenn ihre Interessen gefährdet waren. Sie haben der Bundeswehr ihren Verteidigungsauftrag deutlicher gemacht.

Wie standen Sie zum Nato-Doppelbeschluss?

Ich habe ihn für eine richtige Entscheidung gehalten, die im Übrigen auf eine Initiative des damaligen Bundeskanzlers Schmidt zustande kam. Die Sowjetunion hatte einseitig Mittelstreckenraketen stationiert, die ganz Europa, nicht aber die USA bedrohten. Die Nato beschloss zunächst, die Sowjetunion aufzufordern, die Stationierung rückgängig zu machen. Nur wenn sie dem Vorschlag nicht folgen würde, wollte die Nato ihrerseits Mittelstreckenraketen stationieren, die das Territorium der Sowjetunion erreichen könnten. Der Grundgedanke war neu: Entspannung auf niedrigerer Ebene, solange das Gleichgewicht zwischen den Blöcken erhalten blieb. Wir haben auf einem verminten Territorium gelebt zu Zeiten des Kalten Krieges. Ich konnte nicht sicher sein, aber ich war mir gewiss, dass die Abschreckung funktionierte.

Was waren aus Ihrer Sicht die größten Krisen der Bundeswehr?

Das kann ich nur für meine aktive Dienstzeit bis 1972 beantworten. Die Jugend- und Studentenbewegung 1968 hatte über die Wehrpflicht auch Auswirkungen in die Bundeswehr hinein. Die Motivation und die äußere Disziplin wurden geschwächt. Die langen Haare waren nur eines der sichtbaren Zeichen. Eine Gruppe von Einheitsführern forderte eine Straffung der inneren Ordnung und eine Gruppe noch unerfahrener junger Leutnante genau das Gegenteil. Durch Überzeugungskraft und Geduld konnte diese Krise bewältigt werden.

Eine europäische Armee war schon zu Adenauers Zeiten Thema. Warum gibt es sie noch nicht?

Wenn man den Gedanken des Primats der Politik nicht aufgeben will, so bedarf es für eine supranationale europäische Armee eine entscheidungsbefugte Institution, an die die nationalen Regierungen die eigene Verfügungsgewalt über ihre Streitkräfte übertragen müssten. Diese Institution gibt es bis heute nicht.

Mit welchen Tugenden haben Sie den Beruf des Soldaten ausgeführt – mit Verantwortung oder mit Leidenschaft?

Mit Leidenschaft ist mir zu emotional. Sie läuft Gefahr, das Maß zu verlieren. Ich bin aus Überzeugung Soldat gewesen. Ich wollte Menschen führen und etwas bewirken. Das geht nicht ohne Bereitschaft zur Verantwortung.

Das Gespräch führte Almut Lüder.

Nach einer Führungskrise an der Spitze der Bundeswehr löst Ulrich de Maizière 1966 den damaligen Generalinspekteur Heinz Trettner ab. In seiner neuen Funktion vertrat er weiter engagiert die Auffassung der Soldaten als „Staatsbürger in Uniform“ – auch in seiner Funktion als militärischer Berater von Bundeskanzler Ludwig Erhard (links) und Verteidigungsminister Kai-Uwe von Hassel (Mitte).

Am 31. März 1972 trat de Maizière in den Ruhestand. Das untere Bild zeigt ihn mit Bundeskanzler Willy Brandt

in Bonn bei seinem

Abschiedsbesuch.

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