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Politik: Eine kulturelle Mehrheit

WAHLEN IN DER TÜRKEI

Von Robert von Rimscha

Ein Jahr hat er gebraucht. Im Sommer 2001 hat der türkische Wahlsieger Erdogan seine AKP gegründet. Nun ist sie an der Macht. Der scheidende Premier Ecevit dagegen bekam: ein Prozent. Da hat ein Volk seine Regierung nicht abgewählt, sondern verdammt. Und nun? Der Islamist Erdogan als Lenker des Südostbollwerks der Nato? Ein Klerikaler als Mächtigster in Ankara, das doch in die EU drängt? Atatürks laizistische Armee kurz vor dem Aufstand?

Gemach. Erdogan kann selbst nicht Premier werden, weil er ein Gedicht verlesen hat, das der Justiz als fundamentalistisch erschien. Andere müssen für ihn regieren. Er selbst hat prompt all das gesagt, was die Welt hören will: Es bleibe beim Beitrittswunsch zur EU, bei der Partnerschaft mit den USA. Sich und seine Partei hat Erdogan gar als „Garantie für den Säkularismus" bezeichnet. Da versucht ein charismatischer Pragmatiker offenbar, den Verdacht beiseite zu räumen, er sei ein Wolf im Schafspelz.

Dies mag als Beruhigung für die Aufgeschreckten gedacht sein. Reines Blendwerk ist es nicht. Zweierlei bedrängt die Türken: Arbeitslosigkeit und Korruption. Gegen beides streitet Erdogan. Sauberkeit statt Korruption, Sozialstaat statt Not – so gewann er ein Drittel der Stimmen und zwei Drittel der Parlamentssitze. Die Regionen, die Erdogan wählten, beherbergen die vom Wandel Enttäuschten, Menschen, denen alltagsnahe Hilfe wichtiger ist als doktrinärer Zwist über die Zulässigkeit von Miniröcken. Dies also könnte die Hoffnung sein, die sich mit diesem Wahlausgang verbindet: Dass Erdogan mehr Menschen mitnehmen kann als andere. Als Bürgermeister Istanbuls hat er es getan. Islamisten waren dort oft jene, die einen überforderten Staat in den wuchernden Vorstädten ersetzten, die Sozialdienste leisteten und Halt boten, wo viele entwurzelt sind.

Nach Monaten der Lähmung fängt die Türkei neu an. Das Ergebnis lässt sich nicht vorhersagen. Der letzte Islamist, der die Türkei regierte, Erbakan, hat jedenfalls in seiner kurzen Amtszeit von 1996 bis 1997 keine Grundlage des Staates demoliert. Dass eine Gesellschaft zwischen Europa und der arabischen Welt politisch pendelt und sich mal eine linke, laizistische Reformregierung gibt und mal eine islamischkonservative, ist kaum erstaunlich. Die Linke hat beim Reformieren indes gründlich versagt - dort, wo es für den Bürger zählt. Wie nun eine Regierung funktionieren soll, in der ein charismatischer Parteichef einen noch zu findenden Premier als Marionette auf der Polit-Bühne tanzen lässt, ist offen.

Doch für die großen Herausforderungen der Türkei haben sich die Bedingungen verbessert. Erdogan und die Türken müssen diese Chance nun nutzen. Und Europa muss deutlich machen, dass es nicht nur ein demokratisches Votum akzeptiert, das vordergründig Anlass zur Sorge geben mag, sondern dass es unbeirrbar an zweierlei festhält: klare Bedingungen für eine EU-Mitgliedschaft, die nicht verwässert werden dürfen, weil strategische Interessen der USA die Türkei alsbald in der Gemeinschaft sähen. Aber ebenso: Eine genauso klare Einladung an die Türkei, Mitglied zu werden, so die Bedingungen denn erfüllt sind.

Der säkulare Islam, für den die Türkei steht, hat nämlich Platz in Europa. Islamismus radikaler Prägung hat indes in der EU nichts zu suchen. Erdogan muss nun beweisen, dass er Teile des Letzteren im Namen und in seiner Biografie führt, aber ersteres meint. Gelingt ihm das, hätte er der Türkei nicht nur zu einer kleinbürgerlich-konservativen Kraft verholfen, für die Religion etwas bedeutet. Die Grundsatzfrage, ob es einen demokratischen Islam gibt, ist ja keine, die von manischen Säkularisten beantwortet werden kann, die drei Gedichtzeilen als Volksverhetzung auslegen.

Demokratischen Islam müssen demokratische Moslems praktizieren. Diese Chance hat Erdogan, und er ist anders als Erbakan nicht in ein absehbares Intermezzo gezwängt. Gelingt Erdogan dies alles, dann hätte er noch etwas belegt. Den Türken ging es am Sonntag weniger um einen Systemwechsel denn um einen Stilwechsel. Abgestraft wurde nicht der Säkularismus, sondern die Vetternwirtschaft einer Polit-Kaste, derer das Land überdrüssig war. Es liegt an Erdogan, inwieweit er diesen Stilwechsel zum Systemwechsel nutzt. Oder missbraucht.

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