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Politik: Einsames Rückzugsgefecht

Von Robert Birnbaum

Kurt Tucholsky hat einmal die Theorie aufgestellt, dass die großen Streitfragen der Weltgeschichte nicht entschieden worden sind, sondern vergessen wurden. Welf oder Waibling, Welsche oder Wilhelministen keiner will es mehr wissen, keinen bekümmert es noch. Was gestern ganze Generationen zu hitzigen Debatten trieb, ist vergraben unter dem Staub der Geschichte. Gerade werden wir wieder Zeuge eines solchen stillen Abschieds. Die alte Frage, ob wir die Wehrpflicht brauchen und wollen, wird zur Ruhe gebettet. Auch sie wird nicht entschieden werden.

Daran ändert die aktuell in der SPD und zwischen SPD und Grünen ausgetragene Debatte nichts. Im Gegenteil, sie befördert den Prozess der allgemeinen Ermüdung. Alles ist gesagt. Neue Argumente gibt es nicht.

Das war vor Zeiten anders. Der „Bürger in Uniform“ der frisch wiederbewaffneten Bundesrepublik war als Antwort auf die bitteren Erfahrungen mit der Reichswehr konzipiert. Die Wehrpflicht von 1957 hatte außerdem ein plausibles sicherheitspolitisches Fundament. Es gab die Bedrohung, und es gab ein militärisches Konzept zu ihrer Abwehr, in dem Wehrpflichtige und Reservisten eine allgemein nachvollziehbare Rolle spielten. Alles, was seither passiert ist, hat dieses Fundament erodieren lassen. Obendrein ist auch die Einbindung der Bundeswehr in die Gesellschaft derart gut gelungen, dass sich eine Degeneration zur zweiten Reichswehr niemand mehr vorstellen kann. Das Argument hat sich überlebt.

Alle Versuche, dem Thema diese verlorenen Emotionen wiederzugeben, wirken bestenfalls bemüht. Selbst wer es eigentlich ganz in Ordnung findet, dass junge Menschen ein paar Monate im Dienst an der Gemeinschaft verbringen, wird sich schwer tun zu erklären, wieso das dann nur für junge Männer gelten soll und nur in der Armee. Debattiert wird also auf technischer Ebene: Kosten, Rekrutierung von Nachwuchs, Juristisches. Dass die Wehrpflicht aber nicht nur irgendwie wünschenswert, sondern dringend notwendig und unverzichtbar ist, behauptet in vollem Ernst niemand mehr. Das gibt das stärkste moralische Element in die Hand der Wehrpflichtgegner – sie fragen zu Recht, ob der Staat bei derart dünnen Gründen seine jungen Bürger in die Pflicht zwingen darf.

Faktisch sind die Wehrpflichtigen für die Bundeswehr nützlich, aber nicht nötig. Gegen den neuen Feind hinterm Hindukusch wird – übrigens zu Recht – niemand geschickt, der in seinen neun Rekrutenmonaten mal gerade gelernt hat, wie man ein Gewehr putzt. In Kabul oder Prizren finden sich nur Soldaten, die „Freiwillig längerdienende Wehrpflichtige“ heißen, ein interessengeleiteter Etikettenschwindel für Zeitsoldaten mit kurzer Verpflichtungsdauer.

Ohnehin unbeantwortet ist ja die Frage, ob wir überhaupt eine Wehrpflichtarmee haben – oder bloß noch so tun. Gegen seinen Willen ist nämlich heute keiner mehr beim Bund. Wer nicht wegen körperlicher Gebrechen ausgemustert wird – da kann inzwischen eine Zahnspange reichen –, darf sich per Postkarte zum Zivildienst abmelden. Der reale „Bürger in Uniform“ kommt überproportional häufig aus nicht ganz so blühenden Landschaften, wo der Armeedienst die Alternative zur Arbeitslosigkeit ist.

So erodiert das Fundament weiter. Irgendwann ist es so brüchig, dass niemand mehr darauf bauen mag. Vielleicht schon beim nächsten SPD-Parteitag, wenn die demoskopische Laune der SPD ein Tief beschert und die Basis ein Ventil braucht, um ihren Missmut abzulassen. Warum dann nicht den Abschied von der Wehrpflicht einläuten, ein Modernisierungssignal, das zunächst mal nichts kostet? Allein, dass dieses Szenario in der SPD ernsthaft ventiliert wird, zeigt den Stand der Dinge. Die Schlacht um die Wehrpflicht ist vorbei. Wir sind beim Nachgeplänkel. Eine Idee, mit der sich einmal historische Entscheidungen und Bekenntnisse verbanden, ist zur Verfügungsmasse der Tagespolitik geworden. Allerspätestens die nächste Generation wird sie kopfschüttelnd beiseite schieben. Wehrpflicht? Kannste vergessen.

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