zum Hauptinhalt
Tajana Jurk, die Vereinsvorsitzende des "Zusammenleben e.V.".

© dpa

Einwanderer in Freital: Der Rassismus ist nicht neu

Freital in Sachsen ist seit diesem Sommer ein Symbol für Fremdenfeindlichkeit. Das war schon früher so, wissen Einwanderer, die länger dort leben.

Tatjana Jurk dreht den Kopf der Kanzlerin und nimmt ihn ab. Sie lacht. „Arbeiten wir weiter“, sagt sie. Hinter ihr, in ihrem Büro in Freital, steht die Europa-Flagge, flankiert von der russischen und der deutschen. Sie umrahmen Tatjana Jurk wie eine Präsidentin.

Angela Merkels Kopf liegt vor ihr auf dem Schreibtisch. „Wir wurden als Russen beschimpft und bespuckt“, erzählt Jurk. Inzwischen hat die 54-Jährige die Bundeskanzlerin wieder zusammengeschraubt. „Mutti“ als Matroschka. Eine Puppe mit Talisman-Funktion.

Jurk kam vor 14 Jahren aus Kasachstan nach Deutschland, als Spätaussiedlerin. Sie kam nach Freital bei Dresden. Heute leitet die Russlanddeutsche dort den Verein „Zusammenleben“. Er soll Migranten die Integration erleichtern. In jener Stadt, die in diesem Sommer in die Schlagzeilen geriet aufgrund massiver Ausschreitungen gegen Flüchtlingsunterkünfte. Seither steht Freital für Fremdenfeindlichkeit.

Neu ist diese Haltung hier allerdings nicht, was nun aber nicht heißt, dass in Freital jeder fremdenfeindlich ist. Jurk bleibt, wenn die Politiker wieder weg sind und die Medien auch. Wenn der laute Mob wieder weg ist und der leise noch da. Sie bleibt und arbeitet und hofft darauf, dass der Mob nicht wieder lauter wird oder gewalttätig.

Ihr blond gesträhntes Haar ist vorne und am Scheitel kurz, hinten liegt es auf der Schulter. Ein weißes Seidentuch hat sie umgebunden wie eine Krawatte. Ihr Büro liegt in einem großen Haus an der einzigen großen Straße in Freital. In der Küche im Erdgeschoss gibt es jeden Tag Piroggen. Auf den Etagen darüber haben Suchtberater und Schuldnerberater ihre Räume. Und Jurk.

Vom Hotel zum Heim

Es war nicht einfach für sie und die anderen Spätaussiedler, die nach Freital kamen. „Für uns nicht, aber für die Bürger auch nicht“, sagt die Russlanddeutsche. Die Einwohner der Stadt seien auf die neuen Mitbürger nicht vorbereitet gewesen. „Und jetzt war es der gleiche Fehler: Niemand hat die Bürger informiert.“

Dass das frühere Hotel „Leonardo“ zur Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge werden sollte, haben die Behörden spät im Frühsommer angekündigt. Zu spät, sagen Gegner der aktuellen Flüchtlingspolitik und beklagen: Mitten in einem Wohngebiet stehe das Haus. Es steht auch am Fuße einer großen Hausmülldeponie und in der Nähe einer anderen Halde: Die sowjetische Aktiengesellschaft Wismut legte sie in den 50er Jahren an - für Rückstände der Uranerz-Aufbereitung.

Eine Puppe mit Talisman-Funktion.
Eine Puppe mit Talisman-Funktion.

© dpa

Bevor das Haus zum Heim wurde, war es ein Hotel. Und davor war es - schon einmal ein Heim. Es war eine Unterkunft für Vertragsarbeiter der DDR, zum Beispiel aus Ungarn, aus Mosambik und vor allem aus Vietnam. Die DDR holte sie für die eigenen Betriebe. Auch für das Edelstahlwerk in Freital. 1989 lebten rund 60 000 Vietnamesen in der DDR. Sie bildeten die größte Gruppe unter den Ausländern im Arbeiter- und Bauernstaat, die gerade mal ein Prozent der Bevölkerung ausmachten.

Aber mit den Fremden zusammengelebt haben die Freitaler lange nicht. Nicht nur in der Bundesrepublik hätten völkische Kategorien das staatliche Selbstverständnis geprägt, schreiben die Migrationsexpertinnen Irmhild Schrader und Anna Joskowski in einem Beitrag für die Bundeszentrale für politische Bildung. Integration war nicht die Absicht der DDR-Führung.

„Die Vietnamesen lebten auf Inseln“, sagt Ines Kummer. Die Grünen-Stadträtin arbeitet heute im „Willkommensbündnis“ dafür, dass Flüchtlinge in Freital zurechtkommen. Sie ging auch schon in den 80er Jahren in das Haus für Vertragsarbeiter. „Aber das war von staatlicher Seite überhaupt nicht erwünscht“, sagt sie. „Es gab sogar Repressalien, man wurde zum Gespräch gebeten.“ Das zwang die Vertragsarbeiter in die Isolation. Und die Ideologiehoheit der SED, so sagt es Kummer, hielt Rechtsextremismus unter Verschluss.

Angst vor Mafiosi und Rechtsextremisten

Viele Vertragsarbeiter mussten das Land später wieder verlassen. Etliche sind nach dem Ende der DDR geblieben. In Freital leben heute noch 80 Vietnamesen. „Das sind ganz nette Leute, die haben sich super integriert“, heißt es heute in der Stadt. Die Kinder der früheren Vertragsarbeiter sind - das zählt hier als Argument - besonders gut in der Schule.

Von den Vietnamesen selbst ist kaum etwas darüber zu erfahren, wie ihnen die Freitaler heute begegnen. Haben sie Angst nach den Ausschreitungen dieses Jahres? „Nein. Warum Angst? Alle sehr nett hier in Freital“, sagt etwa eine Frau, die einst als Vertragsarbeiterin kam, zuerst nach Dresden, dann nach Freital. Ihren Namen möchte sie nicht öffentlich genannt sehen.

Nazi-Angriffe mit Eisenstangen und Ketten

Im Gespräch blickt sie zu Boden, nur auf den Boden. „Bitte nicht“, lautet ihre Antwort auf weitere Fragen. „Bitte nicht.“ Eine andere vietnamesische Einwanderin legt auf, als das Telefongespräch auf das Thema Fremdenfeindlichkeit kommt. Die Frauen wollen sich schützen. Jurk sagt, sie selbst oder andere Spätaussiedler erführen heute keine Fremdenfeindlichkeit mehr, Vietnamesen auch nicht. Die Integration der Asylsuchenden von heute wird gelingen, meint sie. „Das soll funktionieren, das wird funktionieren, wie mit uns damals.“

Früher, so erzählt Jurk, hatten viele Vietnamesen keine Namensschilder an der Türklingel. Sie wollten nicht, dass vietnamesische Mafiosi sie finden - oder deutsche Rechtsextremisten.

Es war im September 1991, ein Jahr vor den Brandanschlägen in Rostock-Lichtenhagen. Etwa 60 Skinheads griffen damals in Freital rund 30 Vietnamesen mit Eisenstangen und Ketten an. Danach wurden bei einer Attacke gegen ein nahes Ausländerwohnheim zwei Menschen verletzt. In der Woche zuvor war eine schwangere Vietnamesin von Rechtsextremisten schwer misshandelt worden.

Im Jahr 2015 ziehen wieder Rechtsextremisten durch die Stadt. „Als diese schwarz gekleidete, aggressive Masse durch Freital lief, da habe ich auch Angst gehabt, und nicht bloß ich“, sagt Jurk. Es gab mehrere Angriffe auf das Flüchtlingsheim. Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) konnte schließlich nicht anders, als sich in Freital zu zeigen, kurz. Spät nannte er Rassismus eine „Schande“. Zu spät, sagen viele. Im Juli explodierte in Freital das Auto eines Linken-Politikers. Später trafen Böller sein Büro und eine Flüchtlingswohnung. Unterstützer der neu ankommenden Flüchtlinge, Politiker und Freiwillige, berichten, dass sie Drohungen erhalten.

„Ich fühle mich beschissen von der Frau Kanzlerin“

Die Bevölkerung von Freital schrumpft, rund 38 000 Einwohner zählt die Stadt. An einem Samstagvormittag ist kaum jemand unterwegs auf der Dresdner Straße. Viele leere Geschäfte säumen die einzig große Achse der Stadt. Ein paar Rentnerinnen schauen in die Ladenfenster.

Nur noch etwa halb so viele Menschen zwischen 20 und 25 leben hier wie 1990. Die Zahl der 60- bis 65-Jährigen ist hingegen um fast 60 Prozent gestiegen. Der Anteil der ausländischen Bürger aber ist größer geworden in den Jahren nach der Vereinigung von Ost und West. Im Wendejahr waren eineinhalb Prozent der Freitaler Ausländer, im vergangenen Jahr waren es 2,6 Prozent, das waren 982 Menschen. Ohne sie wäre Freital heute leerer als ohnehin schon.

„Die Leute werden sich langsam daran gewöhnen. An Leute mit anderer Farbe, mit anderen Augen“, sagt Tatjana Jurk, die vor 14 Jahren selbst fremd hier war, aber nicht fremd aussah.

Auf der Straße aber sprechen manche Freitaler ganz anders über Fremde. „Ich fühle mich beschissen von der Frau Kanzlerin.“ Laut sagt diesen Satz eine Frau in einem Laden, wenige hundert Meter von Jurks Büro entfernt. „Ich habe nichts gegen Ausländer, aber...“, sagt sie. Dieser Satz ist eine Formel, häufig benutzt, nicht nur auf den islam- und fremdenfeindlichen Pegida-Kundgebungen in Dresden.

Die Frau in dem Laden in Freital sagt vieles nach dem „Aber“. Zum Beispiel dieses: „Es wurden schon so viele Kriege geführt auf dieser Welt. Es hat noch nie jemand so ein Drama drum gemacht.“ Das ist ihr Kommentar zur Fluchtbewegung aus Syrien.

Jurk arbeitet weiter daran, dass Menschen mehr erfahren über andere Kulturen, über Religionen und Migration. Mittlerweile ist sie Chefin des Integrationsnetzwerks Sachsen und Vize des Beirats für Integration und Migration des Sozialministeriums. Sie leistet wie viele Ehrenamtliche ihre Arbeit dort, wo Merkels „Wir schaffen das“ umgesetzt werden muss. An der Wand in ihrem Büro hängt ein orangefarbenes T-Shirt. Es ist ein Werbe-Shirt vom Bundesfreiwilligendienst. Sie hat es von der Kanzlerin bekommen.

Sophie Rohrmeier, dpa

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false