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Einwanderung: Integration - auf dem richtigen Kurs?

Einwanderer sollen sich integrieren, wünscht die Regierung und droht denen mit Sanktionen, die sich weigern. Was man wissen muss über Deutschland, Sozialstaat, Rechtsstaat, lernen sie kompakt, in 45 Stunden. Ein Besuch im Orientierungskurs.

Auf dem Weg zum Dritten Reich müssen drei Damen sich setzen. Sie haben das Erste Reich durchschritten, vorbei an den Türken vor Wien und einem Zelt aus osmanischer Zeit, Kriegsbeute, natürlich. Im Zweiten Reich schon, vor einer Uniform des letzten deutschen Kaisers, hatten Rücken und Füße zu schmerzen begonnen. Vor dem Nationalsozialismus schließlich haben sie kapituliert.

Nun sitzen sie auf einer Bank, und ihre Blicke sind müde. „Kompliziert“ sei diese Geschichte, sagen sie und meinen die deutsche, die nicht ihre ist, aber die jetzt doch bitte ihre werden soll, ein bisschen zumindest, so verlangt es der Lehrplan.

Es ist ein Freitag im Oktober, Tag fünf eines zehntägigen Orientierungskurses, der wiederum Teil eines Integrationskurses ist, dessen Teilnahme die Regierung Einwanderern seit dem Jahr 2005 vorschreibt: 600 Stunden Sprachkurs, aber auch 45 Stunden Landeskunde. Weswegen die Gruppe Integrationswilliger auch durch die ständige Ausstellung des Deutschen Historischen Museums in Berlin geführt wird an diesem Vormittag. Zur Orientierung. „Der Ausgang“, sagt einer der Wachleute freundlich, „ist da, wo die Mauer fällt.“

Aus drei Themenblöcken besteht der Kurs, in dem die Teilnehmer eine „Positive Bewertung des deutschen Staates“ entwickeln sollen. So will es das zuständige Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. „Politik in der Demokratie“, ist der erste Teil überschrieben, „Geschichte und Verantwortung“ der zweite, „Mensch und Gesellschaft“ der dritte. Nun also Teil II, Völkermord, Konzentrationslager, Hakenkreuze. Dazwischen stehen Amera aus Ägypten, Espedito aus Brasilien, Siri aus Thailand, Männer und Frauen aus dem Irak, aus Bangladesch, Indien, der Ukraine, Israel, überall.

„Nationalsozialismus! Kenn ich alles noch aus der Schule“, sagt Siri.

„Immer dieser Krieg“, sagt Alma, die aus Bosnien kommt und in ihrem 30-jährigen Leben schon genug Sterben gesehen hat. Aber am Ende des Kurses sind Testfragen zu beantworten, also schlägt sie ihr Wörterbuch auf und sucht „Fackelzug“.

Was muss man wissen über ein Land, in dem man leben möchte? Was kann man lehren über ein Land, in 45 Stunden?

Deutschland ist ein Sozialstaat, ein Wohlfahrtsstaat, auch das lernen sie im Unterricht. In die Maschinerie aus Sozialversicherungen und Arbeit möchten sie sich nur zu gern einfügen. „Sie wollen Kindergeld beantragen, wohin gehen Sie?“ Antwort b, Familienkasse. „Sie suchen eine Arbeitsstelle, wohin gehen Sie?“ Antwort a, Arbeitsamt.

Auch Espedito möchte gern arbeiten, nur ist alles schwieriger als gedacht, vor allem die deutsche Grammatik. Vor elf Monaten kam er aus Brasilien. Espedito ist 37 Jahre alt und Pizzabäcker. Wenn ihm ein deutsches Wort nicht einfällt, was oft vorkommt, dann schließt er die Lücke im Satz mit lautem Lachen.

Bei Pizza kommt es vor allem auf den Belag an, glaubt Espedito. Die Deutschen, sagt Espedito, machen keine guten Pizzen. Komischer Belag, werfen zusammen, was nicht zusammengehört. In Brasilien braucht man keinen Integrationskurs, erzählt er. Seine Frau, eine Deutsche, wollte dort trotzdem nicht bleiben.

Als Espedito sie vor Jahren in Brasilien kennenlernte, sprach er kein Englisch, sie kein Portugiesisch. Er griff sich ihren Reiseführer, blätterte. „Du bist sehr hübsch“, war der erste Satz, den er ihr vor Augen hielt. „Willst du mit mir Abendessen gehen?“ der zweite. Er lud sie ein ins einzige Restaurant des Ortes – seins. 2008 heirateten sie, lebten in Brasilien. Nach wenigen Monaten bat seine Frau: Lass uns zurückgehen. Nun bewohnen sie 57 Quadratmeter in Prenzlauer Berg und haben einen kleinen Sohn. Es ist eine große Liebe, sagt Espedito. Deswegen ging er mit.

Müde sitzt er in der ersten Unterrichtsstunde nach dem Museumsbesuch im Klassenzimmer, erster Stock im Lernhaus der Volkshochschule in der Pohlstraße, Tiergarten. An der Deckenlampe klebt ein Zettel, darauf steht „die Deckenlampe“. Der Sohn bekommt drei Zähne, viel geschlafen hat Espedito nicht.

Vor der Klasse steht Gisela Ploog, 58, die unterrichtet mit Händen und Füßen. Sie war mal Schauspielerin im Kindertheater, Märchen, quer durch die Republik, immer vor Weihnachten. Sie hatte in ihrem Leben oft großes Fernweh, war stets unterwegs, sagt Ploog. Jetzt sei das nicht mehr so. Denn jetzt lernt sie die Welt kennen, immer aufs Neue, in jedem Kurs, den sie betreut. Zum ersten Mal, sagt sie, studierte Lehrerin, fühlt sie sich in einem Beruf richtig wohl. „Man darf nur nicht den Anspruch haben, wirklich alles vermitteln zu können“, meint sie. Die Fragen aber müssen verstanden werden, die im Test vorkommen, der am letzten Kurstag geschrieben wird. Wer den besteht – 92 Prozent tun es – und den Sprachtest noch dazu, der bekommt feierlich ein Zertifikat überreicht.

„Die Stunde Null“, sagt Ploog an diesem Montagmorgen. „Erinnern Sie sich? Denken Sie an die Bilder im Museum.“ Natürlich. „Alles kaputt, alles muss neu“, sagt einer. Da wissen sie Bescheid, sie nicken im Takt. Alles neu, auch für sie, die ins Land gekommen sind wegen ihrer Partner, besserer Berufsaussichten oder stabilerer politischer Lage.

Am Kurs teilzunehmen, dazu sind sie entweder berechtigt, Paragraf 44 des Aufenthaltsgesetzes, oder verpflichtet, Paragraf 44a. Berechtigt sind die, denen erstmals eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wurde und die sich dauerhaft im Land aufhalten; verpflichtet sind alle, die sich nicht verständigen können oder jene, die Sozialleistungen wie Hartz IV beziehen. Wer sich verweigert, so beschloss die Regierung am Mittwoch, der wird künftig bestraft. Etwa dadurch, dass die Aufenthaltsgenehmigung nicht mehr verlängert wird.

Wieder andere allerdings melden sich einfach so an, völlig freiwillig. Die meisten sitzen im Klassenzimmer, weil sie hoffen, dass bestandene Tests potenzielle Arbeitgeber beeindrucken. Weil ein Zertifikat heißt: Ich bemühe mich.

Die Kurse werden gefördert, einen Euro pro Unterrichtsstunde zahlt der Schüler, 1,35 der Staat. Weil die Teilnehmerzahlen steigen, hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Etat um 44 Millionen Euro im Vergleich zum Vorjahr erhöht – und dann nochmal 15 Millionen draufgelegt. Jetzt liegt er bei 233 Millionen Euro – und selbst das reicht nicht für alle. 9000 Namen derer, die gern einen Kurs besuchen möchten, stehen zurzeit auf Wartelisten. 140 000 Menschen nehmen gerade deutschlandweit an etwa 16 000 Integrationskursen teil, ausgerichtet von freien Trägern und Volkshochschulen. Und immer mehr bestehen die Deutschprüfungen erfolgreich, Level B1, was unter anderem bedeutet: „kann sich in ein Gespräch über ein vertrautes Thema einbringen und mit einem angemessenen Ausdruck das Wort ergreifen“. B1, auch im Orientierungskurs an der Pohlstraße fällt der Begriff immer wieder. Ein Zauberwort, ein Zugangscode zum deutschen Alltag. „Hast du schon B1?“

Auch Bartek lernt. Das R zerkaut er weit hinten im Mund, aus Polen kommt er, 29 Jahre alt und bereit, nach deutschen Regeln zu spielen. Bartek ist Tänzer und wer in einer Gruppe tanzen will, der darf nicht hochnäsig sein, sagt er. Fest angestellt arbeitete er an der Warschauer Nationaloper. Solo tanzte er nie, dafür machte er parallel eine Ausbildung zum Hotelfachmann.

Das Diplom brachte er mit, als er nun mit seiner Frau nach Deutschland kam. Jetzt hofft er, dass ihm die Ausbildung aus dem Nachbarland anerkannt wird, denn er wünscht sich Kinder, und der Tanz wird ihr Leben hier nicht finanzieren können. Verträge hatte er zwar, sogar mit dem Friedrichstadtpalast, aber dann knickte er auf der Bühne um. Als der Knöchel wieder geheilt war, verdrehte er sich das Knie.

Nun baut er sich ein neues Leben auf. Kleine Schritte, mit Disziplin und täglich, das kennt er, es hat ihn an die Nationaloper geführt, nun soll es ihm hier zu Erfolg verhelfen. „Die Deutschen wissen halt, wie man zu Geld kommt“, sagt er. Wirtschaftswunder, Gastarbeiter, darüber sprechen sie im Kurs. Auch über deutsche Elektrogeräte, Angebot und Nachfrage, was sozial ist an der Marktwirtschaft und warum die DDR so schlecht war, wenn es dort doch keine Arbeitslosigkeit gab.

Gruppenarbeit. Ploog verteilt Karten, auf denen Prüfungsfragen stehen. 250 Fragen gibt es insgesamt, im Test müssen 25 davon in 45 Minuten beantwortet werden. Was für eine Staatsform ist Deutschland? Monarchie, Diktatur, Republik, Fürstentum. Was ist die beliebteste Sportart? Leicht, wenn die Begriffe bekannt, die Worte nicht abstrakt sind. Dass Rechtstaat nicht bedeutet: Der Staat hat recht. Dass Wende von Umdrehen kommt, wie wenn man sich mit dem Auto verfährt – und das Wort trotzdem in Deutschland etwas anderes bedeutet. Manche tun sich schwer.

Für Siri sind die Fragen kein Problem. Weil sie „schon eine Ewigkeit“ in Deutschland ist, mit Unterbrechung seit 2002. Es hat ihr vor allem Gutes gebracht. Unter anderem ihren Ehemann, den sie in München kennenlernte. Das Dorf im Norden Thailands, aus dem sie stamme, sei bitterarm. Wenn sie das erzählt, macht Siri eine bedeutungsvolle Pause und zieht die Augenbrauen leicht nach oben. So arm, soll das heißen, dass man es sich kaum vorstellen kann. Sie ist 29 Jahre alt, und als sie in Bangkok Betriebswirtschaft studierte, nebenbei einen Deutschkurs besuchte, lernte sie eine deutsche Urlauberfamilie kennen. Der Kontakt blieb bestehen und die Bayern luden sie ein, Weihnachten in München zu verbringen.

Siri flog – und blieb. Kümmerte sich um die Oma der Familie, ließ sich im Gegenzug den Besuch einer Sprachschule finanzieren, begann zu studieren, brach ab, schloss schließlich Ausbildungen zur Krankenschwester und Pflegehelferin ab. „Schmarrn“, sagt sie oft und „Semmeln“, und manchmal überlegt sie, welches der größere Kulturschock war: der Umzug von Thailand nach Deutschland oder der von Bayern nach Preußen.

Acht Monate lebte ihr deutscher Mann mit ihr in Thailand, doch wohl fühlte er sich nicht, der Sprache nicht ganz mächtig, ohne Freunde. Also reisten sie zurück. Bald darauf erhielt sie Post von der Ausländerbehörde – die Aufforderung, an einem Integrationskurs teilzunehmen. Siri schrieb einen Brief an das Bundesamt, fragte, ob die Ausbildungen in Deutschland nicht Beweis genug seien für Integration. Eine Antwort erhielt sie nicht. Allein ihr Münchner Deutschkurs wurde ihr anerkannt. „Nicht schlimm“, sagt sie, denn eigentlich möchte sie sich sogar einbürgern lassen, den Test im Orientierungskurs sieht sie als Vorbereitung.

Es ist Dienstag, Tag sieben des Kurses, und Integration ist das Thema. Europäische Integration eigentlich, doch schnell diskutieren die Kursteilnehmer über das Leben in ihrer Stadt. Dass es Gegenden gebe in Berlin, in denen sie sich nicht wohl fühlten. Einer ärgert sich darüber. Er ärgert sich ohnehin über vieles, seitdem er in Deutschland ist. Seine Hautfarbe ist ein dunkles Braun, die Haare sind zu Dreadlocks gedreht. Er kommt aus Brasilien wie Espedito, ist nach Deutschland gezogen wegen einer Frau und zweier Kinder, es ist kompliziert. Er ist Musiker – und frustriert. Dass ihm das Arbeitsamt keinen Job als Musiklehrer vermitteln kann – sein Studium hat er nie abgeschlossen – liegt, so glaubt er, an seinen Haaren, seiner Hautfarbe, seinem schlechten Deutsch.

Als die Gruppe zwei Tage später über Kindererziehung diskutiert, ärgert er sich schon wieder. Weil doch Toleranz und Respekt wichtiger seien als alles andere, sieht das denn niemand?

Dabei geht es ihm da schon besser, er hat Visitenkarten gedruckt. „Gitarrist, Sänger, Komponist und Musikpädagoge“, steht darauf. Er hat einen Brief vom Amt bekommen. Für ein Studium, stehe dort, müsse er Deutschwissen Level B1 nachweisen, mehr nicht. Nun will er sein Studium beenden; und er hat eine Annonce aufgegeben – für Gitarrenunterricht. Er lächelt, er hat sich damit abgefunden: Integration. Es braucht ein wenig Geduld.

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