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Angela Merkel bei einer Runde der Sondierungsverhandlungen.

© dpa

Endphase der Jamaika-Gespräche: Eine Marathon-Sitzung soll es richten

Wenn die Jamaika-Sondierungen gelingen, steht wieder einmal fest: Der Kompromiss ist ein Kind der Zeitnot. Ein schneller Durchbruch wurde aber nicht erwartet.

Von Robert Birnbaum

Viel hat man nicht gehört von Angela Merkel während der Jamaika-Sondierungen. Aber kurz bevor ihr nächstes Regierungsbündnis zustande kommen soll, will die Kanzlerin einen Appell loswerden. „Heute ist der Tag, an dem wir uns auch in die Situation des jeweils anderen hineinversetzen müssen“, sagt Merkel am Donnerstag früh. Dann verschwindet sie in der Parlamentarischen Gesellschaft.

Man hätte denken können, dass fürs Hineinversetzen in den vergangenen drei Wochen genug Zeit war. Aber Winfried Kretschmanns Zornesausbruch am Abend vorher zeigte, dass von großer Empathie bisher keine Rede sein konnte. „Entweder verhandelt man, dann verhandelt man, dann lässt man pauschale Angriffe auf andere Seiten mal beiseite, und zwar radikal, oder ich werde den Verdacht nicht los, dass diese Herren das gar nicht wollen“, hatte der Grünen-Ministerpräsident geschimpft.

„Diese Herren“ sind CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt und CSU-General Andreas Scheuer. Kretschmann hat zu deren Chef Horst Seehofer eigentlich einen guten Draht von Baden-Württemberger zu bayerischem Nachbarn. Um so bedenklicher, dass ausgerechnet ihm der Kragen platzte.

Wieder mal muss es eine Marathon-Sitzung richten

Nun muss es also eine Marathon-Sitzung richten, so wie immer, wenn es hakt und klemmt. Und wie immer rechnete niemand mit dem Durchbruch vor Mitternacht. Das hat taktische Gründe ebenso wie theatralische und ganz banale.

Der banale Grund für die häufigen Nachtrunden ist schnell abgehandelt: In den auf Minuten durchgetakteten Terminkalendern von Spitzenpolitikern sind sie oft der einzig freie Platz. Auch das Theatralische ist rasch erklärt. Eine SPD-Politikerin hat einmal die Anekdote erzählt, wie sie als Schlichterin in Tarifverhandlungen nach fünf Minuten feststellte, dass Arbeitgeber-Angebot und Arbeitnehmer-Forderung praktisch identisch waren. Sie habe dann Karten kommen lassen und bis tief in die Nacht Skat gespielt. Nach Stunden erst traten alle mit zerfurchten Gesichtern aus der Tür und verkündeten eine Einigung in „harten, zähen Verhandlungen“. Show muss sein für die eigene Anhängerschaft.

Doch seit jeher ist die Nachtsitzung vor allem ein Macht- und Disziplinierungsinstrument. Wahrscheinlich hat schon Karl der Große seine Höflinge zu nachtschlafener Zeit mit Aufträgen geplagt.

Schon Adenauer plagte störrische Minister nachts

Von Konrad Adenauer ist belegt, dass er störrische Minister mit Schlafentzug auf seine Linie brachte: Der Alte ließ im Kabinett einfach so lange diskutieren, bis aller Widerspruch entschlummerte.

Spätestens seither gehört Sitzfleisch zur Grundqualifikation von Politikern. Wer das nicht kann, hat im Kanzleramt und an Parteispitzen nichts verloren. Merkel war schon zu Oppositionszeiten berüchtigt für ihr Durchhaltevermögen. Nach einem Wahlkampftag etliche Gläser Rotwein bis früh um vier, um acht schon wieder Plauderstunde im Seniorentreff – kein Problem. Als sich nach einem Transatlantikflug in Washington ein Abgeordneter aus der Hotelbar ins Bett empfahl, klang ihm ein spöttisches „Schon müde?“ hinterher.

Aber die Nachtschwärmerei hat einen tieferen Grund: Der Kompromiss ist ein Kind der Zeitnot. Je härter Positionen gegeneinander stehen, je schwerer der Sprung über den eigenen Schatten fällt, um so länger zögert jeder den Moment hinaus. Das ist menschlich, und Politiker sind Menschen. Erst am Schluss werden alle beweglich, wenn der Uhrzeiger immer weiter rückt und draußen vor der Tür die Kameralinsen immer bedrohlicher daran erinnern, dass ein Scheitern mitsamt seinen Folgen schwerer zu begründen ist als eine noch so mühsame Einigung.

Merkels Morgenappell zielt auf diese Situation

Erst in kleinen Runden unter vier, sechs, zehn Augenpaaren wird Tacheles geredet. Erst dann hat sich auch das Instrument erschöpft, durch öffentliches Sprücheklopfen Druck aufzubauen oder bei Anhängern noch schnell ein paar Punkte zu machen. Am Ende des Pokerspiels müssen schlicht die Karten auf den Tisch.

Merkels Morgenappell zielte auf diese Situation. Als Dienstälteste neben CSU-Chef Horst Seehofer kennt die CDU-Chefin die Dynamik solcher Gespräche. Allerdings auch die Risiken. 2003 schlossen beide mit der rot-grünen Regierung einen Kompromiss zur Zahnersatz- Finanzierung, der sich hinterher als reichlich unpraktikabel erwies.

Vor bloßen Formelkompromissen warnte denn auch Wolfgang Kubicki: Lieber ein paar Tage dranhängen, wenn es jetzt nicht klappe, gab der FDP-Vize via „Spiegel“ den Kollegen mit in die Nacht. Kubicki hat Jamaika in Kiel mit ausgehandelt und darf also als Pionier im Dschungel komplizierter Bündnisse gelten. Wenn diese Koalition vier Jahre lang halten solle, mahnte Kubicki, müssten vorher erst alle raus aus ihren Schützengräben: „Wenn einige meinen, alles für unverhandelbar zu erklären, was verhandelt werden muss, dann wird das nichts.“

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