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Protest. Aids-Patienten und Ärzte demonstrierten in Kiew gegen die von der Regierung geplante Umsiedelung der Lawra-Klinik.

© dpa

Epidemie: Aids ist in der Ukraine kein Randproblem mehr

Nirgends in Europa breitet sich HIV so rasch aus wie in der Ukraine – nicht nur bei den Risikogruppen. Sex wird tabuisiert, Aufklärung ist mangelhaft.

Das Mädchen auf dem Foto ist blass und abgemagert, sitzt zusammengesunken auf einem Bett. Natascha hat das Bild dabei, weil ihr sonst keiner glauben würde, dass sie vor sechs Jahren an Aids erkrankt ist. „Damals war ich im Endstadium“, sagt die 26-jährige Ukrainerin. Als sie in die Lawra-Klinik in Kiew kam, hatte sie Tuberkulose, litt an einer Hirnhautentzündung, war auf einem Auge blind. Heute ist Natascha kaum wiederzuerkennen. Die große Frau mit den blond gefärbten Locken und im tief ausgeschnittenen schwarzen Kleid fährt regelmäßig in die Lawra-Klinik, um ihre Werte überprüfen zu lassen. Seit sechs Jahren erhält sie eine antiretrovirale Therapie. „Die Ärzte haben mir mein Leben zurückgegeben“, sagt Natascha.

Doch diese Therapie erhalten in der Ukraine nur wenige Betroffene. Nach Angaben von UNAIDS haben dort 2007 nicht einmal neun Prozent der Kranken die von ihnen dringend benötigten antiretroviralen Medikamente bekommen. Dabei ist die Ukraine das von HIV und Aids am schlimmsten betroffene Land Europas. Insgesamt leben dort 440 000 Menschen mit HIV, schätzen UNAIDS und die Weltgesundheitsorganisation. Osteuropa und Zentralasien sind die einzigen Regionen weltweit, in denen die Zahl der Neuinfektionen deutlich steigt. Im vergangenen Jahr infizierten sich in der Ukraine 19 840 Menschen mit dem tödlichen Virus, fast fünf Prozent mehr als im Vorjahr. Nicht allein die Schnelligkeit, mit der sich das Virus verbreitet, beunruhigt die Fachleute. Längst sind nicht mehr nur Risikogruppen betroffen, also Drogenabhängige, Prostituierte oder homosexuelle Männer. In mehreren Ballungsgebieten verbreitet sich das Virus weit über diese Gruppen hinaus. „In der Stadt Dnjepropetrowsk sind drei Prozent aller schwangeren Frauen HIV-positiv“, sagt Switlana Antonjak, Chefärztin der Abteilung für HIV und Aids an der Lawra-Klinik. Auch Natascha gehört keiner Risikogruppe an. Wie sie sich angesteckt hat, weiß sie nicht – beim Sex oder während einer Operation, vermutet sie.

Die Ausbreitung der Epidemie hatte mit den Drogensüchtigen begonnen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion stieg deren Zahl rapide an, saubere Spritzen waren Mangelware. „Die Drogensüchtigen fielen aus dem Rahmen, man hat sie nicht wahrgenommen“, sagt Antonjak. Erst 1994 wurden die ersten HIV-Infizierten entdeckt. Aber auch die Tabuisierung der Sexualität in der Sowjetunion und mangelnde Aufklärung sind nach Ansicht von Experten mit dafür verantwortlich, dass das Virus sich weiter ausbreitet. Die frühere Prostituierte Olyena arbeitet heute als Sozialarbeiterin und versucht, die Prostituierten in ihrer Heimatstadt Czernowitz über Aids aufzuklären. „Diese Frauen wissen kaum etwas über HIV“, berichtet Olyena.

Die Ursachen dafür liegen bereits in der Schule. „Sobald man versucht, mit dem Thema Sexualaufklärung in Schulen zu gehen, trifft man auf großen Widerstand“, sagt Michael Krone, der als Experte im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) in Kiew arbeitet. Es gebe oft auch keine Aufklärung im Elternhaus. Im Rahmen der Deutsch-Ukrainischen Partnerschaftsinitiative zur Bekämpfung von HIV/Aids, die von den Gesundheitsministerien beider Länder vereinbart wurde, gibt es daher Projekte an Schulen ebenso wie Unterstützung für Organisationen, die sich um Prävention in den Risikogruppen bemühen. Eine dieser Organisationen ist „Nasch Mir“ („Unsere Welt“), die sich für die Rechte von Schwulen einsetzt. In der Sowjetunion wurden sexuelle Beziehungen zwischen Männern strafrechtlich verfolgt. „Auch heute werden Homosexuelle im Alltag stigmatisiert“, sagt Andrej Majmulachin, Leiter von „Nasch Mir“. Viele von ihnen führen daher ein Doppelleben. Das Fehlen einer schwulen Community erschwert auch die Aids-Prävention.

Ohne Unterstützung aus dem Ausland könnte auch die renommierte Lawra-Klinik kaum arbeiten. „Programme, die mit HIV/Aids zu tun haben, sind in der Ukraine unterfinanziert“, sagt Klinikdirektor Viktor Marschewski. Der Staat trägt nach Ansicht von Switlana Antonjak eine Mitschuld an der rasanten Ausbreitung der Epidemie: „Wir haben so ein dramatisches Bild, weil der Staat keine angemessene Antwort auf die Herausforderungen findet“, sagt die Chefärztin.

Kürzlich hat Premier Mikola Asarow sich allerdings persönlich mit der Klinik beschäftigt: Er billigte ein Dekret zu ihrer Umsiedelung. Derzeit befindet sie sich auf dem Gelände des berühmten Kiewer Höhlenklosters. Offenbar soll das teure Grundstück anderweitig genutzt werden. In einer spektakulären Aktion protestierten Aids-Patienten vor einem Regierungsgebäude gegen die Entscheidung. Die Lawra-Klinik ist für Betroffene aus dem ganzen Land die wichtigste Anlaufstelle. In die kleine Ambulanz im ersten Stock kommen täglich etwa 100 Patienten, bis zu 800 Menschen im Jahr werden stationär behandelt. Wie es nun weitergehen soll, wissen Switlana Antonjak und ihre Kollegen nicht.

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