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Ein harter Polzeieinsatz beendete in der Nacht zum Sonntag die zweiwöchige Rebellion von Istanbul.

© AFP

Erdogan bekämpft sein eigenes Volk: Der Traum vom friedlichen Miteinander liegt in Trümmern

Um 20.55 Uhr am Samstagabend begann der Sturm der Polizei auf das Zeltlager der Demonstranten. Am Sonntagmorgen steigt noch immer Rauch über Istanbul auf. Und vieles liegt nun in Trümmern: zum Beispiel der Traum von einem friedlichen Miteinander.

Im Auge des Sturms ist es ruhig um zwei Uhr früh am Sonntag. Der Taksim-Platz liegt dunkel und fast menschenleer. Nur ein paar Beamte mit Funkgeräten laufen über den Platz und winken die Sattelschlepper des Katastrophenschutzes heran, die Bagger und Baumaschinen bringen, um das Zeltlager im Gezi-Park abzuräumen. Vereinzelt sitzen erschöpfte Demonstranten mit Bierflaschen auf Bordkanten und sehen ihnen dabei zu. Geisterhaft still schimmern die verlassenen Zelte im trüben Licht einiger Straßenlaternen zwischen den Bäumen im Park. Es herrscht Ruhe, doch von draußen trägt der warme Nachtwind wütendes Geschrei, Sirenengeheul und den brennenden Geruch von Tränengas heran. Rings um den Taksim tobt der Sturm weiter in die Nacht hinein.

Vor dem Divan-Hotel abseits vom Taksim haben sich einige hundert Demonstranten gesammelt. „Hurensöhne, Hurensöhne“, skandieren sie den Polizisten zu, die vor dem Hotel postiert sind. Ein Einsatzfahrzeug fährt ein paar Meter vor, ein trockener Knall, weißer Rauch – schreiend flüchten die Skandierer ins Hotel hinein. Durch die offenen Türen weht das Tränengas ins überfüllte Foyer, alles hustet, schreit und drängelt weiter ins Hotelinnere, um dem beißenden Rauch zu entkommen. An den Aufzügen wird gerangelt – alle wollen mitfahren, doch die schon drin sind, wollen niemanden mehr zusteigen lassen und schubsen die Nachkömmlinge hinaus. In den Konferenzräumen im Untergeschoss wächst ein Rückzugslager für erschöpfte Revolutionäre. Bärtige Männer in Bauhelmen laufen mit Plastiksprühflaschen herum und bespritzen alle mit einer Flüssigkeit, die gegen das Brennen auf der Haut helfen soll.

Irgendwann an diesem Abend hockt plötzlich auch Claudia Roth, die deutsche Grünenpolitikerin, hustend und heulend im Hotelkeller. „Das war echt schlimm, ich konnte nicht mehr atmen, ich habe keine Luft mehr bekommen“, erzählt sie anschließend von den Tränengasschwaden, die sie im Foyer abbekommen hat. Das ist die Wirkung des Reizgases, die alle hier zu spüren bekommen: eine entsetzliche Erstickungsangst, die zur sofortigen Flucht zwingt – alles, nur um wieder frische Luft zu bekommen. Entsprechend gereizt sind die Menschen, die sich in den Hotelkeller geflüchtet haben. „Das ist Krieg gegen die Menschen hier, das ist Krieg gegen alles, was Demokratie heißt“, schimpft Claudia Roth.

Auch Grünenpolitikerin Claudia Roth hat in Istanbul Tränengas abbekommen: „Das war echt schlimm, ich konnte nicht mehr atmen, ich habe keine Luft mehr bekommen.“
Auch Grünenpolitikerin Claudia Roth hat in Istanbul Tränengas abbekommen: „Das war echt schlimm, ich konnte nicht mehr atmen, ich habe keine Luft mehr bekommen.“

© Twitter

Draußen vor dem Hotel ist das Tränengas inzwischen längst verflogen, dort löffeln die fliegenden Händler schon wieder Soße auf den Pilaf, der auch um zwei Uhr morgens reißenden Absatz findet. Einige der Straßenköche tragen Bauhelme für alle Fälle, aber ihre hell beleuchteten Handkarren geben der Szene eine festliche Note. Auf einer Mauer hocken müde Demonstranten mit ihren weißen Helmen auf dem Schoß, daneben sitzt auf dem Straßenpflaster ein Zug müder Bereitschaftspolizisten mit den weißen Polizeihelmen unter dem Arm. „Sagt mal, wo ist eigentlich Serdar, mit dem wir es vorhin immer zu tun hatten?“, erkundigt sich ein junger Demonstrant bei den etwa gleichaltrigen Polizisten. „Serdar hat keine Schicht, du musst mit seiner Ablöse reden“, kommt die Antwort; der Demonstrant wirkt enttäuscht.

Rings um den Taksim sitzen überall die Trupps von Bereitschaftspolizisten auf der Straße. In ruhigeren Ecken schlafen sie auf ihren Schildern, an belebteren Ecken sitzen sie mit den Rücken an den Häuserwänden und ignorieren die Hohnrufe der versprengt herumirrenden Grüppchen von Demonstranten. Im Amüsierviertel an der Istiklal-Straße, wo man sich um zwei Uhr früh am Sonntag normalerweise durchs Gedränge schieben muss, ist es gespenstisch leer. „Wartet nur, das ganze Land marschiert hierher, dann werdet ihr plattgemacht“, schreit ein Mann ihnen aus sicherer Entfernung zu. Ein paar hundert Meter weiter, am Galatasaray-Gymnasium, sind die Polizisten noch im Einsatz; mit Wasserwerfern schieben sie die Demonstranten zurück und vergrößern den Sperrring um den Taksim.

Doch je weiter der Ring der Ruhe um den Taksim wächst in dieser Nacht, desto weiter wütet der Proteststurm durch die Stadt. Mitten in der Nacht stecken in ganz Istanbul zehntausende Autos in kilometerlangen Staus fest, weil Demonstranten wichtige Straßen, Brücken und Autobahnkreuze besetzt haben. Am Okmeydani-Platz, sechs Kilometer vom Taksim entfernt, steigen in den frühen Morgenstunden noch Tränengaswolken auf; in Gaziosmanpasa, 15 Kilometer vom Taksim, marschieren Kurden auf der Autobahn; in Bahcesehir, 27 Kilometer vom Taksim, halten aufgebrachte Bürger um halb zwei Uhr früh die Autobahn besetzt. „Taksim ist überall, überall ist Widerstand“, rufen die Demonstranten.

„Für diese Regierungen gibt es niemanden außerhalb der eigenen Wählerschaft.“

Auf dem Taksim selbst, im Auge des Sturms, gehen die Aufräumarbeiten die ganze Nacht lang weiter. Um 20.55 Uhr am Samstagabend hatte der Ansturm hier begonnen, kurz nach einer letzten Warnung der Polizei: „Achtung, verlassen Sie den Gezi-Park, sonst müssen wir Sie dazu zwingen“, schallte es da aus den Lautsprecherwagen. Danach ging alles sehr schnell. Wasserwerfer und Bereitschaftswagen rückten über den Platz auf den Park vor, gefolgt von mehreren Polizeizügen in Kampfmontur. Im Park regnete es die gefürchteten Gasgranaten, tausende Besetzer rannten keuchend davon. „Hunderte von Gasgranaten waren es“, erzählt der 25-jährige Arbeiter Murat Kanat, der dabei war. „Alle Leute sind aus dem Park abgehauen und haben sich gegenseitig niedergetrampelt.“ Kaum 20 Minuten dauerte es, dann war der Park nach zweiwöchiger Besetzung geräumt. Und dann begann die lange Nacht des Proteststurms.

Am nächsten Morgen rauchen bei Sonnenschein noch die Trümmer der nächtlichen Straßenschlachten, in Okmeydani blockiert das Wrack eines ausgebrannten Wagens eine Zufahrtsstraße. Der Taksim bleibt am Morgen in der Hand der Polizei, der Stadtreinigung und der Müllabfuhr. Beamte in Uniform und Zivil haben alle Zufahrten zum Platz abgeriegelt. Arbeiter pflanzen Blumenrabatten am Republik-Denkmal auf dem Platz und rollen Rasen-Bahnen aus. Im Gezi-Park selbst sind Reinigungsfahrzeuge und städtische Putztrupps am Werk. Anstreicher übermalen die Parolen der Protestbewegung. Baufahrzeuge schieben Reste von Barrikaden der Demonstranten zusammen.

Brutales Ende. Aber viele Demonstranten wollen sich nicht damit abfinden. Sie sammelten sich am Sonntag wieder.
Brutales Ende. Aber viele Demonstranten wollen sich nicht damit abfinden. Sie sammelten sich am Sonntag wieder.

© Geisler-Fotopress

Für alle anderen bleibt der Taksim gesperrt, alle Zufahrten und Seitenstraßen rings um den Platz sind mit Polizeisperren abgeriegelt. Vor einer Absperrung an der Istiklal-Straße steht an diesem Morgen der Maler Tolga Göcen. Seine Gasmaske hat er auf den Bauhelm auf seinem Kopf geschoben, in der Hand hat er eine türkische Fahne. Göcen ist sicher, dass die Proteste mit dem Sturm auf den Gezi-Park nicht beendet sind. „Das hier ist nur der Anfang“, sagt Göcen. „Das Volk hat gesehen, dass alles gut werden kann, wenn es nur zusammenhält.“

Der Maler hat in der Nacht das Tränengas der Polizei über sich ergehen lassen, er hat kaum geschlafen. Das Lager der Demonstranten im Gezi-Park, „das war Utopie – Reich und Arm zusammen“. Die Polizei habe diese Utopie mit ihrem Angriff zerstört, klagt Göcen, doch er ist sicher, dass dies auch der Anfang vom Ende der Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan war. „Der wird nicht mehr über die Türkei herrschen können.“

Das sehen nicht alle Istanbuler so. „Respekt für den Willen der Nation“, hieß das Motto der Kundgebung, zu der Erdogan seine Anhänger für Sonntagabend in Istanbul aufgerufen hatte und zu der hunderttausende Befürworter seiner harten Linie kamen. Zeitgleich versuchten seine Gegner zum Taksim zu marschieren, der dagegen weiträumig abgesperrt blieb. Die Straßenschlachten in der Metropole haben tiefe Wunden in der türkischen Gesellschaft geschlagen. Unversöhnlicher denn je stehen sich Anhänger und Gegner der Erdogan-Regierung gegenüber. Der Traum von einer Gesellschaft, die innere Differenzen friedlich austragen kann, liegt in Trümmern.

Noch vor ein paar Tagen, als Demonstranten und Erdogan miteinander redeten, da habe er Hoffnung gehabt, sagt Yildirim Dogan, ein 37-jähriger Grafiker, der am Tag nach dem Sturm auf den Park ebenfalls vor der Polizeiabsperrung am Taksim steht. Und jetzt? „Die Leute sind wütend, sie fühlen sich von Erdogan betrogen.“ Schließlich habe der Premier den Besetzern eine Frist von 24 Stunden gesetzt, um den Park zu verlassen, dann aber innerhalb weniger Stunden die Polizei in Marsch gesetzt. „Damit wurde eine rote Linie überschritten“, sagt Dogan. „Das wieder auszubügeln wird schwer.“

An der Polizeiabsperrung bildet sich eine Menschentraube. Aufgeregt diskutieren die Leute die Ereignisse der vergangenen Nacht. „Erdogan ist der Adolf Hitler des 21. Jahrhunderts“, ruft einer empört. „Er führt sich auf wie ein arabischer Herrscher“, sagt ein anderer. „Er schaut nur auf die eigenen Leute, und die anderen gucken in die Röhre“, schimpft ein Dritter. Erdogan, der Spalter – das ist das Bild, das viele Demonstranten und Intellektuelle vom Ministerpräsidenten haben.

Ahmet Mümtaz Taylan, Schauspieler und Mitglied einer Delegation von Intellektuellen und Demonstranten, die vor wenigen Tagen mit Erdogan sprachen, zieht eine ernüchterte Bilanz seiner Vermittlungsbemühungen: „Für diese Regierungen gibt es niemanden außerhalb der eigenen Wählerschaft.“ Viele Istanbuler kritisieren den Polizeisturm auf den Gezi-Park als überflüssig, weil die Park-Besetzung ohnehin ihrem Ende entgegengegangen sei.

Selbst die AKP-Wählerschaft ist verunsichert von dem brutalen Ende des für Erdogan ärgerlichen, aber weitgehend friedlichen Zeltlagers. „Die Regierung hat zwar 50 Prozent bekommen bei den Wahlen, aber sie muss den Leuten zuhören“, sagt in der Diskussion an der Polizeiabsperrung der 20-jährige Ahmet Yilmaz. Er hat bei der letzten Wahl 2011 selbst für Erdogan gestimmt, aber mit dem Vorgehen der Regierung im Gezi-Park ist er nicht einverstanden. „Wenn es einen Dialog gegeben hätte, wäre es nicht so weit gekommen.“

Nun ist es aber so weit, und außerhalb der Absperrungen sammeln sich am Sonntag wieder die Demonstranten, um einen Vorstoß zum Taksim zu versuchen. Am Vormittag sind es noch kleinere Gruppen von vermummten Jugendlichen, mit denen die Polizei relativ mühelos fertig wird. Für den Nachmittag rufen die Organisatoren aber alle Erdogan-Gegner dazu auf, aus drei Richtungen massenhaft auf den Taksim zu marschieren. Die Straßenschlachten zwischen Polizei und Demonstranten dauern auch am Abend an. Wer in dieser Nacht den Taksim beherrschen wird – und in der nächsten –, das ist noch längst nicht entschieden.

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