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Politik: Erdogans Europa

Ankaras Premier geht für den EU-Beitritt seines Landes in die Offensive – und kritisiert Vorurteile gegen den Islam

Woher rührt diese Spannung, die sich langsam über die freundliche Ausstrahlung im großen Konferenzsaal legt? Ist das der in diesen Tagen viel beschworene, aber im Konkreten oft schwer fassbare kulturelle Gegensatz zwischen Orient und Okzident? Nein, auch mit Christentum und Islam hat das wenig zu tun, wenngleich der große, sportlich wirkende Mann mit dem dunklen Haar am Rednerpult mehrfach davon spricht. Man muss einen Moment die Augen schließen, dann wird die Ursache der Irritation klar: Bild und Ton fallen auseinander. Was die Ohren aufnehmen, klingt kämpferisch – als wäre der Mann da vorn im Wahlkampf. Lautstärke und Intonation, die von den Lautsprechern noch verschärft werden, passen besser auf einen Marktplatz als zu den leisen Farbtönen im Haus der Friedrich-Ebert-Stiftung. Wie aus einer Ballmaschine beim Tennis-Training, so schnell und fast ohne Pause prasseln die Worte auf die Zuhörer ein.

Vielleicht fühlt sich Recep Tayyip Erdogan genau in dieser Rolle, als müsse er das Publikum mitreißen, für sich gewinnen – und für sein großes Ziel: den EU-Beitritt der Türkei. Der religiös-konservative Premier verspricht „null Toleranz für Folter“, aber er will auch durchsetzen, dass die Türkei nicht mehr ständig in Menschenrechtsdebatten verwickelt werde.

Am dritten Tag seines Berlin-Besuchs gibt der Regierungschef noch mal alles, breitet über 40 Minuten seine Argumentationspalette aus und nimmt die Einwände auf, die in den Zeitungen standen. Die EU, betont er, ist auch für ihn eine Wertegemeinschaft, in der rechtliche Standards durchgesetzt werden müssen, in denen der Staat dem Individuum dient und nicht umgekehrt. Für die Türkei sei die Anwendung europäischen Rechts aber nichts Fremdes. Schon Atatürk habe 1923 das Rechtssystem von der Schweiz, Italien und Frankreich übernommen. Die Türkei, das ist der eine Strang seiner Rede, ist Europa.

Der andere: Er fordert Gleichbehandlung mit den Osteuropäern, mehr nicht. Ist es nicht ungerecht, dass die vor der Türkei in die EU kommen, obwohl sie viel später ihre Beitrittsanträge gestellt haben? Sein Land habe sich 1959 um die Aufnahme in die damalige EWG beworben, sei seit 1949 Mitglied des Europarats, seit 1952 der Nato – und bekam doch erst 1999 offiziell den Status eines Kandidaten. Nun sei es höchste Zeit für Beitrittsverhandlungen, spätestens 2004 müsse die EU einen Termin nennen. Später, als ihn seine Rede offenbar selbst mitreißt, sagt er gar, spätestens 2004 müssten die Gespräche beginnen. Denn darauf beharrt er: Nach den jüngsten Verfassungsänderungen und Reformpaketen erfülle die Türkei die EU-Bedingungen bereits – in allen Belangen.

Gewiss genüge es nicht, schränkt Erdogan dann doch ein, nur die Bestimmungen mit denen der EU zu harmonisieren. Sie müssten auch Anwendung finden. Und da gebe es in der Türkei noch Probleme. Aber auch mit anderen Ländern wurde über den Beitritt verhandelt, bevor die Reformen abgeschlossen waren. Und dann zitiert Erdogan Albert Einstein: Vorurteile zu überwinden, sei schwieriger, als Atome zu spalten. Die Türkei habe revolutionäre Fortschritte gemacht, stoße aber auf Europas Vorurteile gegen den Islam.

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