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Das Gefängnis im Istanbuler Bezirk Silivri. Im Prozess gegen den mutmaßlichen Geheimbund Energekon wird am Montag das Urteil gefällt.

© AFP

Ergenekon-Prozess in der Türkei: Urteil gegen den Staat im Staat

Die beschuldigten sollen einen Putsch gegen Ministerpräsident Erdogan geplant haben, Gegner des Regierungschef sprechen von einer Hexenjagd. In einem der größten Gerichtsprozesse in der Geschichte der Türkei wird am Montag das Urteil gefällt.

Alles an diesem Verfahren sprengt die normalen Maßstäbe eines Strafprozesses. 600 Verhandlungstage, zehntausende Aktenseiten, 275 Angeklagte, 160 Zeugen, ein eigens errichteter Gerichtssaal für 800 Menschen – und heftige politische Spannungen. An diesem Montag verkündet die 13. Kammer des Istanbuler Schwurgerichts nach fast fünfjähriger Verfahrensdauer ihr Urteil im Ergenekon-Prozess – eines der wichtigsten Verfahren in der Geschichte der Türkei, ein Prozess, der das Land gespalten hat. Die Beschuldigten, darunter Ex-Generalstabschef Ilker Basbug, sollen im Geheimbund Ergenekon einen Putsch gegen den islamisch-konservativen Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan vorbereitet haben. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen vor, einige Anschläge verübt und andere geplant zu haben, um das Land zu destabilisieren und den Weg für eine Militärregierung freizumachen. Unter anderem sollen Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk und türkische Christen auf der Todesliste gestanden haben. Ausgelöst wurden die Ermittlungen durch den Fund von 27 Handgranaten in einem Haus im Istanbuler Stadtteil Ümraniye im Jahr 2007. Es folgten mehrere große Verhaftungswellen, bei denen viele aktive und pensionierte Offiziere, aber auch Akademiker und Journalisten hinter Gitter kamen.

Ergenekon, der Legende nach die Heimat der Türken in Zentralasien, war nach Überzeugung der Anklage nicht nur ein rechtsgerichteter Geheimbund, sondern auch die Hauptorganisation des sogenannten „tiefen Staates“. Damit bezeichnen die Türken national-säkularistische Kräfte im Staatsapparat, die als selbst ernannte Wächter der Republik zum angeblichen Wohl des Staates buchstäblich über Leichen gehen. Doch Erdogan-Gegner sprechen von einer Hexenjagd. Ergenekon sei eine reine Erfindung der Staatsanwaltschaft, um Gegner der Regierung mundtot zu machen und insbesondere das Ansehen der Militärs zu untergraben.

Zu Beginn des Prozesses wurde das Verfahren von vielen als Chance gesehen, mit dem „tiefen Staat“ aufzuräumen und die putschverliebten Militärs, die seit 1960 vier gewählte Regierungen von der Macht verdrängt haben, in die Schranken zu weisen. Dann mehrten sich die Zweifel. Einige Angeklagte sitzen seit mehr als fünf Jahren in Untersuchungshaft. Viele Vorwürfe der Staatsanwaltschaft stützen sich auf Aussagen anonymer Zeugen. Die EU kritisierte, dass die Vorwürfe wenig konkret seien.

Beobachter wie der Journalist Aydin Engin, selbst ein Opfer des Militärputsches von 1980, sind trotz aller Unzulänglichkeiten überzeugt, dass es sich für das Land gelohnt hat. „Die Türkei hat diesen Prozess gebraucht“, sagte Aydin dem Tagesspiegel. Vor Gericht fand seiner Ansicht nach eine Abrechnung zwischen der Erdogan-Regierung und den hartgesottenen Kemalisten statt, den Anhängern der strikt säkularistischen Ideologie von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk. Bis zum Machtantritt der Erdogan-Partei 2002 hatten die Kemalisten lange das Sagen; noch 2007 drohten die säkularistischen Militärs mit einem Putsch gegen Erdogan. Dieser Geist habe vor Gericht gestanden, sagt Aydin: „Das hilft der türkischen Demokratie“, auch wenn das Land unter Erdogan keineswegs zu einer vollendeten Demokratie geworden sei. In den Zeiten vor Erdogan habe die Formel in Ankara gelautet, dass Politiker zwar an der Regierung seien, aber nicht an der Macht. „Es gab einen Staat im Staat.“ Im Ergenekon-Prozess sei die Aufarbeitung dieser Missstände zumindest „teilweise gelungen“.

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