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Politik: Erinnern wir uns!

Von Wolfgang Schäuble

In diesen Tagen jährt sich zum 60. Mal der Tag, an dem Claus Graf Schenk von Stauffenberg den letzten, verzweifelten Versuch unternahm, das deutsche Volk vor dem Verhängnis zu bewahren, in das seine damaligen Machthaber es beförderten. Er selbst und viele seiner Mitstreiter bezahlten dafür mit dem eigenen Leben. Was bedeutet es heute, an dieses Datum zu erinnern? Gewiss, ehrendes Gedenken für Männer und Frauen, die das eigene Leben einsetzten, um dem Verbrechen zu wehren, um selbst nicht noch mehr Schuld auf sich zu laden. Wichtiger jedoch ist etwas anderes: Wir erinnern uns an Vergangenes, um uns in der Gegenwart zu orientieren. Der amerikanische Philosoph George Santayana hat das so formuliert: Wer nicht aus der Geschichte lernt, ist gezwungen, sie zu wiederholen.

Aber stimmt das? Ist nicht unsere Situation von der des 20. Juli 1944 vollständig verschieden? Sicherlich, niemand wird behaupten, wir stünden heute vor denselben Problemen wie jene Widerständler. Demokratie, Freiheitsrechte, eine auf internationale Partnerschaft orientierte Außenpolitik, das ist unter uns Konsens. Es ist auch nicht geraten, mit Blick auf unsere Vergangenheit hier in permanente Gespensterfurcht auszubrechen. Trotzdem: Gerade das Selbstverständliche zerrinnt uns schnell zwischen den Fingern. Es hört auf, uns etwas wert zu sein, weil wir es für Gegeben nehmen. Was uns nichts wert ist, das geben wir am Ende leichtfertig aus der Hand.

Erinnern wir uns! Die Weimarer Demokratie ist nicht zuletzt daran zu Grunde gegangen, dass es zu wenige Demokraten in ihr gab. Demokratie lebt vom aktiven Engagement jedes Einzelnen. Da kann es uns nicht gleichgültig sein, wenn die Wahlbeteiligung auf negative Rekordwerte sinkt. Dabei geht es nicht um Publikumsbeschimpfung. Die niedrige Wahlbeteiligung macht uns aufmerksam: Zu viele Menschen haben offenbar das Vertrauen verloren, dass ihre politische Beteiligung irgendetwas austrägt. Die Reformen unseres in der Vergangenheit erfolgreichen Wirtschafts- und Sozialsystems müssen so umgesetzt werden, dass dieses Vertrauen wiederhergestellt wird. Überdruss darf nicht in „Systemgegnerschaft“ umschlagen.

Es kommt ja mancherlei zusammen: beschleunigte Veränderungen in wirtschaftlichen und sozialen Strukturen, atemberaubende Fortschritte in Wissenschaft und Technik, eine demographische Entwicklung, die den Altersaufbau dramatisch verändert. Und zu alledem kommt die Globalisierung hinzu, der Prozess, in dem Entfernungen schrumpfen, Grenzen nicht mehr trennen wie früher, auch nicht mehr schützen. Kein Wunder, dass Abwehrreaktionen zunehmen.

Da tut Orientierung Not, auch Maßstäbe. Die können wir aus der Geschichte gewinnen. Der Staat kann nicht alles. Deshalb muss er Raum geben für die Entfaltung der Kräfte der Menschen und Gerechtigkeit sicherstellen. Dann können wir es schaffen. Ohne Engagement geht das nicht.

Wolfgang Schäuble ist Mitglied des CDU-Präsidiums. Er schreibt diese Kolumne im Wechsel mit Richard Schröder und Antje Vollmer.

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