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Die Verkäufer der Apokalypse bei der Arbeit: Spektakulär sind die Aktionen von Greenpeace, oft gefährlich, wie hier die Besteigung der Reaktorkuppel des AKW Unterweser.

© ddp

Erinnerungen einer Greenpeace-Aktivistin: Wir waren die Verkäufer der Apokalypse

Wie sich die Bilder gleichen: Schon zu Beginn der 1980er, lange vor Tschernobyl, beschwor die Autorin als Greenpeace-Aktivistin die Katastrophe. Dann kam Tschernobyl, und alles wurde Wirklichkeit. 25 Jahre später blickt die Welt nun erneut in den atomaren Abgrund.

Von Caroline Fetscher

Ein déjà vu folgt dem anderen. Wenn uns jetzt bei Tag und Nacht die Bilder des berstenden Kernreaktors in Fukushima bedrängen, kommen sie mir vor, wie aus einem alten Alptraum der siebziger und achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Man sieht verzweifelte Menschen zwischen Trümmern, Facharbeiter in Strahlenschutzanzügen, Mütter und Kinder, die mit Geigerzählern abgetastet werden, voll beladene Busse auf der Flucht aus verstrahltem Territorium. Alles, was Atomgegner beschworen haben – vor Tschernobyl, nach Tschernobyl –, wird Wirklichkeit, noch einmal und noch schlimmer. Denn hier lässt sich nichts mehr auf die marode Sowjetindustrie schieben, der die Ukraine ihren explodierten Schrottmeiler verdankte. Das hier passiert „bei uns“, im Fernen Osten der als hypermoderner Teil des demokratischen Westens gilt.

Und all die Schreckensbegriffe unserer Jugend sind wieder da: Becquerel, Gammastrahlen, Caesium, Strontium, Plutonium, Halbwertszeiten – der Strahlentod. Nicht nur wer damals zu den Aktivisten gehörte, hat im Lauf der Jahre gehofft, dass von Radioaktivität nur noch die Rede sein würde, wenn es um die Entsorgung verbrauchter Brennelemente geht oder darum, den Nukleartechnikern des Iran auf die Finger zu schauen. Ansonsten hieß die Parole: Laufzeitbegrenzung, Ausstieg aus der Kernenergie. Die Vorstellung, das Unheimliche sei erkannt und gebannt, entlarvt sich noch einmal als kollektive Verdrängungsleistung.

An Unheimlichkeit ist das gespaltene Atom durch nichts zu überbieten, darin waren sich die Umweltaktivisten schon damals, oben im Dachgeschoss, einig. Im Hamburger „Haus der Seefahrt“ hatte sich Anfang der achtziger Jahre eine kleine Crew von Aktivisten eingenistet. Sie gehörten zum eben gegründeten deutschen Ableger der weltweiten Umweltschutzorganisation Greenpeace. Diesem Trüppchen war jeder willkommen, der irgendetwas anpackte, Flugblätter verteilen, Bootsmotoren reparieren, Regale zimmern oder übersetzen. Bei Greenpeace, gegründet 1971 während des Vietnamkriegs von amerikanischen Wehrdienstverweigerern in Kanada, wurde auf Englisch kommuniziert. Im Büro unterm Dach tummelten sich Dutzende Freiwillige wie im Bienenstock. Langhaarige Kerle gab es, die Tofu aßen und einander oft nur beim Spitznamen kannten, Hausfrauen, die Broschüren eintüteten, junge Soziologen, denen das Arbeitsamt den Lohn zahlte, Leute, die früher in K-Gruppen mitgemischt hatten genauso wie solche, die den deutschen Wald, Natur und Schäferhunde schätzten. Es gab aber auch einen pragmatischen Physiker, der 10 Jahre lang mein Freund werden sollte.

Ich war Anfang 20, hatte Uni-Seminare zu Goethes „Faust“, Klaus Theweleits „Männerphantasien“ und Karl Marx’ „Das Kapital“ hinter mir, und dann die Hamburger Journalistenschule von Gruner und Jahr absolviert. Gleich hätte es weitergehen sollen, bei „GEO“, „Brigitte“ oder „Schöner Wohnen.“ Ans Mitmachen in der verlogenen Welt der Medien war aber gar nicht zu denken. Alles lag im Argen, ringsherum bleckte die Katastrophe ihre Zähne. In Rhein und Elbe verendeten die Fische, Müllschiffe kippten giftigen Schlamm in die See, saurer Regen ging auf die Wälder nieder, und die ärgsten aller Gefahren trugen Namen wie Wyhl, Brokdorf, Brunsbüttel oder Biblis.

Während wir zur Schule getrabt waren, hatten die Erwachsenen das Land mit Abfall und hässlicher, tödlicher Technologie übersät, hinter unserem Rücken, auf dem wir den Ranzen trugen, um für eine Zukunft zu lernen, die bereits verstrahlt und verkauft aussah. Nicht nur die NS-Vergangenheit unseres Landes bedeutete also Grauen, sondern auch die verseuchte Zukunft. Und keiner der Verantwortlichen schien sich einen Dreck um den Dreck zu scheren. Da mussten eben wir ran, die Jüngeren.

Mit dem Journalistendiplom in der Tasche heuerte ich im Dachgeschoss an, ohne Vertrag, ohne Lohn. Einfach so. Das Notwendige wurde nebenher verdient, sogar, wenn es sein musste, mit Filmkritiken beim „Spiegel“, jedenfalls solange man feste Jobangebote von dort wie unsittliche Ansinnen ablehnen konnte, und das war Ehrensache. Kern des Projektes Greenpeace war der Kampf gegen die Kernenergie, damit hatten die frühen Campaigner angefangen. Sie waren mit einem Fischkutter zur Insel Amchitka gefahren, ein Benefizkonzert von Joni Mitchell und anderen hatte im Oktober 1970 in Vancouver dafür gesorgt, dass die Öko-Hippies ihre Reise ins US-Atomtestgebiet auf den Aleuten in der nordpazifischen Beringsee antreten konnten. Dort lebte niemand, „nur ein paar Ureinwohner“, so das Kalkül der Testnationen von damals.

In der Kampagne gegen Atomwaffentests fand sich eine meiner ersten und längsten Aufgaben bei Greenpeace. Hier wurde klar, dass die existentielle Angst vor möglichen radioaktiven Unfällen an Orten wie Wyhl, Brokdorf, Brunsbüttel oder Biblis längst ein ganz reales Objekt hatte. Die militärischen Tests der Atomnationen nämlich weisen genau das Szenario auf, das für Unfälle bei „friedlicher Nutzung“ erwartet wird. Die Tests waren nichts anderes, als vorsätzlich erzeugte Nuklearkatastrophen, bei denen es darum ging, Reichweite und Zerstörungspotential atomarer Verseuchung zu messen. Wo nukleare Bomben getestet wurden, gedeiht meist auf Tausende von Jahren nichts mehr, das Gelände ist strahlenverseucht – wie Tschernobyl, wie Fukushima.

Wir jungen Atomcampaigner holten Geschichte nach und sahen: Die machen das überall! Das passiert alles längst, die Apokalypse ist schon so gut wie da! Im Schnitt detonierte jede Woche eine Atombombe. Nichts von alledem hatten wir in der Schule gehört, nur Hiroshima und Nagasaki waren uns vage ein Begriff – als einmalige, schreckliche Ereignisse, die das Fanal des Zweiten Weltkriegs darstellten. Wir lasen, was wir bekamen: Gutachten, Zeugenberichte, Opferaussagen und das von Nobelpreisträgern 1945 gegründete „Bulletin of the Atomic Scientist“. Die Erde ist von atomaren Pockennarben übersät. Um den gesamten Globus herum gab und gibt es Serien von „GAUs“, von größten anzunehmenden „Unfällen“. Nur waren das vorsätzlich erzeugte Nuklearexplosionen.

Franzosen testeten von 1960 bis 1966 in der algerischen Sahara. Die Sowjets testeten in Novaja Zemlja und im kasachischen Semipalatinsk. Amerikaner ließen Atomwaffen in Alaska und von 1948 bis 1958 auf dem pazifischen Bikini Atoll sowie dem Enewetok Atoll der Marshall Islands detonieren, die Briten ab 1952 in der australischen Wüste, auf den australischen Montebello Inseln und den zu Kiribati gehörenden Christmas Islands. China testete 1954 in Lop Nor, südwestlich der Mongolei, Indien 1974 in der Wüste Rajastan (eine gute Website zum aktuellen Überblick ist hier zu finden: www.atomicarchive.com). Hinter alledem steckte die Logik des Kalten Krieges, die den bizarren Namen „MAD“ trug: Mutually assured destruction, garantierte gegenseitige Vernichtung. Mad indeed.

Oben am Hamburger Hafen aber hockten zwischen Kaffeebechern und ungepflegten Topfpflanzen unverdrossen die Aktivisten und verfassten Briefe an die Präsidenten in Moskau und Washington: Stoppen Sie das Atomprogramm! Bauen Sie keine Atombomben und Atomkraftwerke mehr! Die sind größenwahnsinnig, berichtete ich meiner Wohngemeinschaft aus Kunsthistorikern und Ethnologen. Nee, die machen genau das Richtige, klärte Richard, der Peruforscher, mich auf.

Er hatte recht. Je mehr man erfuhr, desto mehr hatte er recht. Resultat der wilden, oberirdischen Atomtests waren strahlenkranke „Eingeborene“, unbewohnbare Pazifikinseln, verseuchte Lagunen und Fischgründe, Menschen, die Schilddrüsenkrebs und Gendefekte entwickelten. Militärs richteten mondähnliche Sperrgebiete ein, man machte geheime medizinische Untersuchungen an Verstrahlten, siedelte ganze Bevölkerungen pazifischer Inseln um. Zum massivsten Symbol wurde für mich die gigantische Betonkuppel auf Runit Island mit 107 Metern Durchmesser, unter der verstrahlter Erdboden begraben liegt. Runit Island gehört zum Enewetok Atoll der Marshall Inseln, wo das US-Militär bis 1962 mehr als 100 atmosphärische Tests veranstaltete. Ende 1977 entschloss sich die Regierung zu einer Aufräumaktion, und ließ atomar verstrahlte Erde auf Runit in einem Krater einlagern, den die Atomexplosion mit dem Codenamen „Cactus“ dort im Mai 1958 in den Boden geschlagen hatte. Der Betondeckel, Cactus-Dome genannt, war 1980 fertig und kostete eine Viertelmillion Dollar.

Aus den Augen, aus dem Sinn: Für diese Dynamik der Verdrängung ist Runit-Island das Symptom par excellence. Im Zuge der Entkolonialisierung mussten die westlichen Atommächte sich neue Testgelände suchen, auch musste man nun unterirdisch testen. Die atomaren Militärs wichen aufs Meer aus, Frankreich bohrte seine nuklearen Sprengsätze in die Korallenriffe Mikronesiens. Die USA boten den Briten an, mit ihnen auf dem Gelände Yucca Flat in Nevadas Wüste zu testen, wo insgesamt 739 Atomwaffen gezündet wurden. Es gilt als der am stärksten radioaktiv verseuchte Ort der Erde.

Einheimische Bevölkerung und eigene Rekruten hatten den Atommächten als Versuchskaninchen gedient. Auf dem Greenpeace-Schiff Sirius hatten wir 1984 bei einer Aktion den ehemaligen britischen Soldaten Colin Avey an Bord, der sich stolz einen großen Atompilz und einen Marinekreuzer auf seinen Bauch hatte tätowieren lassen: Christmas Islands 1958 – 63 las man auf dem Schriftzug über seinem Nabel. Colin Avey war zum Atomgegner geworden, als ihm dämmerte, dass er gezielt der Strahlengefahr ausgesetzt worden war.

Einer der Veteranen, Vincent Prust, schildert, wie er auf Christmas Island den größten Wasserstoffbombentest erlebte, am 28. April 1958. Die Soldaten wurden bei Morgengrauen zum Frühstück gerufen, dann auf Lastwagen verladen. Zehn Meilen vom „Burst Point“ entfernt gab man ihnen weiße Overalls, „mit denen wir aussahen wie vom Ku Klux Klan”. Dann sollten sich alle hinhocken und die Fäuste auf die Augen drücken. Der Blitz der Explosion sei eine riesige Stichflamme gewesen, sie hätten die Knochen ihrer Finger wie bei einer Röntgenaufnahme sehen können. Die Soldaten durften aufstehen und den Atompilz ansehen, einige hatten dafür dunkle Sonnenbrillen mit. „Im Zentrum erhob sich ein Feuerball, rosa, gelb, braun, rot. Das Meer kochte.“30 Prozent der Briten, die bei den Tests dabei waren starben früh. Noch heute kämpfen britische Testveteranen um Anerkennung und Entschädigung. Und noch bei ihren Enkeln sind Gendefekte häufiger als im Durchschnitt der Bevölkerung.

Wie sollten wir mit all den Informationen, Eindrücken, Tatsachen fertig werden? Aktion war ein geeignetes Mittel, der Ohnmacht wenigstens etwas entgegen zu setzen. Im Juni 1983 starteten die beiden Greenpeace-Aktivisten John Sprange aus London und Gerd Leipold aus Hamburg einen Protestflug per Heißluftballon in den Luftraum über Berlin – der einzige Ort der Welt, der von allen vier Atommächten gemeinsam kontrolliert wurde. Ich war für die Pressearbeit zuständig, uns allen hatte Pastor Gollwitzer als Hauptquartier sein schönes Haus in Dahlem überlassen, immer wieder parkten seltsame Vehikel vor der Haustür, von denen ein Kenner annahm, dass sie Geheimdienstleuten gehörten. Der Ballon startete und landete in Brandenburg, wo die DDR-Behörden klug genug waren, die beiden Piloten rasch zurück in den Westen zu schicken. Irgendwo in einem Hotel, ich weiß nicht mehr genau wo, hielt ich damals die Pressekonferenz mit ihnen ab.

1985 war das Greenpeace-Schiff Rainbow Warrior unterwegs im Pazifik, unter anderem um die Bewohner der Insel Rongelap auf ein anderes Eiland zu bringen. John Anjain, Präfekt auf der Insel, dessen Sohn mit 19 an Leukämie gestorben war, hatte um internationale Hilfe für die Umsiedlung gebeten. Tagelang nahm das Schiff Männer, Frauen, Kinder, Koffer, Ziegen an Bord, und fuhr zwischen Rongelap und den kleinen Inseln Mejato und Ebeye im Kwajalein-Atoll hin und her, auf denen wenigstens kein radioaktiv verstrahlter Boden war. „Operation Exodus“ brachte 300 Menschen und hundert Tonnen Material in Sicherheit. Enge, Arbeitslosigkeit, Selbstmorde und Krankheiten machen den Menschen dort bis heute zu schaffen.

Im selben Sommer wurden wir Ziel eines Terrorangriffs durch Frankreichs Regierung. Die Rainbow Warrior machte Halt im neuseeländischen Hafen Auckland, wo zwei als touristisches Taucherpaar getarnte Mitarbeiter des französischen Geheimdienstes eine Bombe am Kiel des Schiffes befestigten. Unser Freund, der Fotograf Fernando Pereira, Vater zweier Kinder, kam bei der Explosion um. Die meisten Besatzungsmitglieder waren zufällig gerade auf Landgang.

Heftiger konnte man das Vertrauen unbewaffneter friedlicher junger Leute kaum erschüttern. Da nutzte kein Yoga und keine vegetarische Küche mehr. Brutalisierte Feinde des Friedens lauerten überall. Immerhin hatte die Sache Konsequenzen. Monatelang schüttelte der kriminelle „Vorfall“ Frankreichs Presse und Regierung, Minister Hernu nahm seinen Hut. Kein Jahr darauf, im April 1986, kam es zur Kernschmelze in Tschernobyl, der Beton-Sarkophag des Reaktors wird in diesen Tagen, ein Vierteljahrhundert später, erneut zur medialen Ikone.

Wie waren wir klein! Ein Haufen Verrückte, die die Welt verändern wollten, Gutmenschen und Späthippies. Ihr ruiniert den Fortschritt, hörten wir zum Beispiel, ihr macht unsere Industrie kaputt! Ihr wollt bleifreies Benzin? Irrwitz, das wäre das Ende des Standorts Deutschland. Wenig später waren Katalysatoren auf dem Markt. Es ging eben doch.

Obwohl ich schon lange von Greenpeace Abschied genommen habe, obwohl ich dann doch zur Zeitung ging und vieles an der grünen Ideologie für zu wenig sozial und reflektiert halte – diesen Teil meines Lebens bereue ich keine Sekunde. Jetzt, leider, erst recht nicht.

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