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Die nationalistische Zeitung "Sözcü" ging Kanzlerin Angela Merkel nach dem fast einstimmigen Beschluss des Bundestages hart an.

© dpa

Erinnerungskultur: Nationen können ihren Untaten nicht entkommen

Staaten, die ihre Geschichte verklären, vergessen sich selbst. Das zeigt sich auch jetzt wieder mit der Türkei und der Armenien-Resolution. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Peter von Becker

Die Erinnerung, notierte vor 200 Jahren der Dichter Jean Paul, sei „das einzige Paradies, aus welchem wir nicht vertrieben werden können“. Allerdings gibt es Vergangenheiten, die nicht nur den Opfern von Leid und Grausamkeit eher als Hölle erscheinen. Ohne manchmal etwas zu verdrängen und zu vergessen, könnten viele Menschen kaum (über)leben.

Sicher gilt das auch für Täter, die so einer späten Strafe oder peinlichen Erinnerung zu entkommen hoffen. Aber kann man sich selbst entkommen? Und gilt das auch über individuelle Schicksale hinaus? Viele Gruppen, Verbände und Völker pflegen am liebsten ganz ausgesuchte, verklärte Erinnerungen. Sie wollen eine Schönschreibung ihrer Geschichte und kultivieren darin eine Art kollektiver Demenz.

Wie bisher alle türkischen Regierungen im Hinblick auf den Völkermord an den Armeniern. Nationalistische Türken empfinden die jüngst in einer Bundestagsresolution wachgerufene Erinnerung an Taten vor hundert Jahren als aktuelle Beschmutzung ihrer „nationalen Würde“.

Die ungeschminkte Erinnerungskultur der Deutschen

Weltmeister des Gegenteils, also einer möglichst ungeschminkten Erinnerungskultur sind die Deutschen. Nicht alle Deutschen („die“ ist immer eine Vereinfachung), aber zumindest das politisch, kulturell, zivilgesellschaftlich verantwortliche Deutschland. Das hat mit der angerichteten historischen Katastrophe, mit Holocaust, Krieg und dem eigenen Zivilisationsbruch zu tun. Mit der Niederlage und dem Siegersegen einer auch unvollkommenen „Reeducation“.

Ohne die daraus folgende Selbstvergewisserung, ohne die grundsätzliche, grundgesetzliche Neubesinnung wäre auch ein Neuanfang in Europa, wäre etwa die Aussöhnung mit den Nachbarn Frankreich und Polen, wäre auch ein offenes Verhältnis zu Israel nie möglich gewesen.

Eigentlich sind das Selbstverständlichkeiten. Heikel wirkt freilich ein Gestus sühnestolzer Selbstgerechtigkeit, wenn wir sehr mahnend auf uns oder andere zeigen. Aber: Die Erinnerung an die Untaten anderer Völker soll keine Relativierung eigener historischer Taten bedeuten.

Überhaupt ist Geschichte, zumal in Europa, so wenig teilbar wie die kollektive Erinnerung. Sie kennt keine nationalen Grenzen, keine nationalistischen Mauern und Zäune. Die Hölle, die Täter, die Schuldigen, das waren oder sind immer die anderen – diese Devise funktioniert nicht. Nicht auf Dauer. Und doch wird sie von Populisten und Nationalisten wieder verbreitet.

Die neue Rechte marschiert, fast überall in Europa. Nicht als Mehrheit, aber sie ist vom eben noch braunen Rand eingedrungen in die Mitte, in Teile des Bürgertums. Schon denkt man da wieder an die Trauer oder den bitteren Hohn eines Brecht („der Schoß ist fruchtbar noch“) oder Thomas Bernhard (Österreich, eine Nazipest). Und man lese die jüngste Ausgabe der klugen Zeitschrift „Kursbuch“ zum Thema „Rechts. Ausgrabungen“.

Der Rechtspopulismus hat in Europa tiefere Ursachen

Mit dem starren Blick auf Flüchtlingszahlen, Brüssel, Merkel, Pegida oder Le Pen wird vergessen, dass das in Europa überwunden geglaubte nationalistisch-völkische Denken tiefere Ursachen hat, die in der offiziellen Selbstwahrnehmung oft verdrängt werden. Da steht die Türkei nicht allein. In Italien beispielsweise, wo Mussolini inzwischen fast wertfrei als historische Figur betrachtet wird, erinnert man sich lieber nicht an die Allianz mit Hitler, und praktisch vergessen ist Mussolini-Italiens Giftgaskrieg und Massenmord an 700000 Afrikanern 1935 beim Feldzug gegen Abessinien. Frankreichs Erinnerung gilt viel intensiver der Résistance als dem faschistischen Vichy-Regime und der eigenen, heftigen Beteiligung an der Verfolgung und Ermordung der französischen Juden. Österreich, lautet die Pointe, hat aus Hitler einen Deutschen und aus Beethoven einen Österreicher gemacht und lange genug die Legende des „ersten Opfers“ gepflegt. Doch nirgends waren die Nazis stärker.

Wir sind die Opfer, wir werden bedroht, das ist das Fantasma, das Ausländer, Fremde, Minderheiten oder den politischen Gegner zum Sündenbock macht. Das gilt für den wiedererstarkten Faschismus in Kroatien ebenso wie für die gegen Juden, Sinti und Roma gerichteten Traditionen in Ungarn. Auch das antiwestliche System Putins gründet auf der rechtsgewendeten nationalen Verdrängung und gar Verklärung des Stalinismus.

So viel Selbstbetrug blendet und vergiftet. Ohne wahre Erinnerung kann ein Land dann auch die eigene Würde vergessen.

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