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Ermittlungen: Scotland Yards schwerster Fall

Scotland Yard - da denkt man an Kommissare im Karo-Cape, an flackernde Gaslaternen und dröhnende Schiffshörner über der Themse. Aber der Fall, den Scotland Yard jetzt lösen muss, ist dramatischer als alles, was sich Krimiautoren ausdenken könnten. (25.07.2005, 13:37 Uhr)

London - Vier oder fünf potenzielle Selbstmordattentäter sind untergetaucht und warten womöglich darauf, zuschlagen zu können. In jeder U-Bahn, jedem Bus schauen sich die Leute misstrauisch um. Scotland Yard steht nach den Worten seines Chefs Sir Ian Blair (52) «vor der größten Herausforderung seiner Geschichte».

Kamerateams aus aller Welt warten vor dem nüchternen Hochhaus, in dem Londons Kommissare heute den Tätern auf die Spur zu kommen suchen. Nur ein Schild mit der Aufschrift «New Scotland Yard» erinnert an die historischen Wurzeln. 1829 gegründet, zog die Londoner Polizei später an den Platz Great Scotland Yard - so genannt, weil dort einst der schottische Botschafter residiert hatte. Im Laufe der Jahre ging dieser Name auf das Polizeihauptquartier über.

Heute sieht sich Scotland Yard gern als modernste Polizei der Welt. Weniger als eine Stunde vor den Terroranschlägen des 7. Juli hatte Ian Blair in einem Interview gesagt, sein Korps habe den «Goldstandard bei der Terrorabwehr begründet». Doch zu Beginn dieser Woche stehen er und seine Leute massiv in der Kritik: Mehrere Tage nach der Veröffentlichung von vier Fahndungsfotos haben sie noch keinen der verhinderten Selbstmordattentäter vom vergangenen Donnerstag gefasst, wohl aber einen unschuldigen Brasilianer erschossen.

Nun steht Scotland Yard als Rambo-Polizei da. Dabei waren die Briten immer so stolz darauf, dass ihre Bobbys im Normalfall noch nicht einmal bewaffnet sind. Für Sir Ian gilt das besonders. Dieser «Idealtyp des denkenden Polizisten» (BBC) und «progressive Intellektuelle» (The Guardian) hat in Oxford englische Literatur studiert hat und wollte ursprünglich Schauspieler werden. Seit seinem Amtsantritt zu Beginn dieses Jahres setzt er stark auf den Dialog mit Londons Minderheiten. Das heißt konkret, dass bis 2009 jeder vierte der dann 35.000 Polizisten in London ein Farbiger sein soll. Obwohl jedes Jahr viele hundert Polizisten eingestellt werden, müssen weiße, männliche Bewerber zurzeit bis zu drei Jahre warten, weil Farbige und Frauen bevorzugt werden. Auch Homosexuelle werden gezielt angeworben.

Gerade in den vergangenen Wochen war Sir Ian mehrmals zu Besuch in Moscheen. Er kommt seinen Zuhörern weit entgegen: «Es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn man ein fundamentalistischer Muslim, Jude oder Christ ist», sagte er einmal. «Man darf nur nicht zum Extremisten werden.» Sogar die Anreise des umstrittenen islamischen Geistlichen Tariq Ramadan hat er bezahlt, damit dieser in London zum Gewaltverzicht aufrufen konnte. Nur Leute wie Ramadan könnten radikale junge Muslime überhaupt noch erreichen, meint Blair. Die rechte Presse hasst ihn für so viel «politische Korrektkeit».

Schon vor Wochen gab es Überschriften wie: «Würden Sie sich trauen, Sir Ian Ihre muslimischen Nachbarn zu melden? Hätten Sie nicht Angst, als Rassist dazustehen?» Nun fragen konservative Zeitungen offen, ob Londons Polizei nicht eine bessere Führung verdiene. Anstatt auf die «Sensibilitäten ethnischer Minderheiten» solle sich Blair endlich auf die Ergreifung der Täter konzentrieren, fordert der «Daily Telegraph». Seit den Tagen von Jack the Ripper hat kein Scotland-Yard-Chef mehr unter solchem Erfolgsdruck gestanden. (Von Christoph Driessen, dpa)

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