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Politik: Erschöpfte Gewinner

Der Protest als Geduldsprobe. Wie Feuerwerk und Musik den Demonstranten Mut bis zum Urteil machten

Viktoria hat gesiegt. Viktoria, die seit dreizehn Tagen an genau derselben Stelle am Majdan, dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew, steht, in einen orangefarbenen Plastiksack gehüllt, mal die Finger der linken, mal der rechten Hand zum Victory-Zeichen in den Himmel gestreckt. Ihren Job als Programmiererin hat sie deshalb verloren. Aber sie strahlt. „Niemand hat es hier einfach gehabt. Aber wir haben gewonnen“, sagt die 36-jährige Kiewerin.

Vielleicht beginnt in diesen Minuten eine neue Zeitrechnung in der Ukraine – die Ära der Demokratie, die mit der Entscheidung des Obersten Gerichts eingeleitet wurde. Als die Menschen, die vor den Bildschirmen ausharren, auf denen die Anhörungen übertragen wurden, erfahren, dass die Richter eine Wiederholung der Stichwahl angeordnet haben, bricht Jubel aus. Aber nur kurz: Alle sind erst einmal nur erleichtert. „Gott sei Dank“ und „endlich“ hört man sie sagen. Und mit jeder Minute wird es enger auf dem Platz. Hunderte strömen aus der U-Bahn-Unterführung, springen aus den Bussen auf die nassen Straßen voller Matsch. Nach tagelangem Frost ist es warm geworden in Kiew.

Länger hätten sich die Richter kaum Zeit lassen können: Das Volk hat gedrängt. Am Freitagmorgen hatten sich vor dem Gerichtsgebäude der Altstadt wieder knapp hundert Menschen versammelt. Doch diesmal skandierten sie nicht den Namen ihres Helden, des Oppositionsführers Juschtschenko. Es war fast erschreckend still, ein paar ältere Frauen beteten.

Dass die Menschen am Ende waren, hat man am deutlichsten in dem Betongebäude am Ende von Kreschtschatik gesehen, das diejenigen beherbergt, die nach Kiew gereist sind, um für Demokratie zu kämpfen. Dort tragen Ärzte und Sicherheitsleute Mundschutz, dort liegen Decken eingemummte Gestalten auf Matratzen oder stehen Schlange vor der Kantine, ohne jeden Ausdruck im Gesicht. Eine Atmosphäre, wie man sie aus den Bunkern in Kriegsfilmen kennt „Ich bin sauer. Sehr sauer“, hatte ein Mann, der den Aufgang zum ersten Stock bewacht, noch am Donnerstag gesagt. „Ich werde kämpfen. Mit Gewalt, wenn es nötig ist.“

Viktor Juschtschenko, den die Menschen auf Kiews Straßen seit der Stichwahl als ihren Präsidenten betrachten, wusste, dass die Stimmung gefährlicher wurde. Vor allem wuchs die Angst vor einer Finanzkrise: Wie in Russland 1998 fingen die Menschen an, Kühlschränke, Waschmaschinen und Möbel aufzukaufen. Deshalb ordnete Juschtschenko schon am Mittwochabend das Feuerwerk an, das für den Tag des Sieges vorgesehen war. Deshalb bat er am Donnerstagabend die Menschen, noch nicht nach Hause zu gehen. Deshalb sang um Mitternacht der beliebteste Rocksänger des Landes, Oleg Skripka, umsonst fürs Volk. Deshalb schickte Juschtschenko stündlich einen Abgeordneten zum Majdan.

Freitagabend, nach der Gerichtsentscheidung, ist wieder mal Jurij Luzenko von der Sozialistischen Partei dran: „Ihr seid die Sieger“, ruft er den Menschen zu. „Ju-schtsch-ko“, rufen sie zurück.

Alia Begisheva[Kiew]

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