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Politik: „Erst einmal sollten alle abstimmen“

Der Fraktionschef der Sozialdemokraten im Europaparlament, Martin Schulz, über die Bedeutung des „Non“ der Franzosen

Herr Schulz, die Franzosen haben die EUVerfassung abgelehnt. Kann man den Vertragstext nachträglich noch ändern?

Ich glaube kaum, dass an dieser Verfassung etwas neu zu verhandeln ist. Ein Teil der Selbsttäuschung dieser heterogenen Koalition der Nein-Sager in Frankreich bestand in dem Glauben, man könne mit Neuverhandlungen etwas Sozialeres herausbekommen. Eine Reihe von Demagogen wollte den Leuten weismachen, dass ein Nein zu Neuverhandlungen führen würde. Ich frage mich, wie man das mit 18 konservativen Regierungen in Europa bewerkstelligen will.

Kann man die Verfassung vereinfachen?

Wenn Sie das deutsche Grundgesetz gelesen haben, werden Sie feststellen: Nach den ersten 20 Grundrechts-Artikeln wird es extrem kompliziert. Die Finanzverfassung der Bundesrepublik Deutschland zu verstehen, ist relativ schwierig. Und wenn man einen Verfassungsvertrag für 25 souveräne Staaten schreibt, kann man den nicht auf zehn Zeilen reduzieren. Eine Lehre aus der französischen Abstimmung ist aber: Man hätte eine Kurzfassung dieser EU-Verfassung produzieren müssen, die die wesentlichen Kernbotschaften der einzelnen Teile verdichtet.

Wie soll es jetzt mit der Ratifizierung weitergehen?

Mich schockiert am meisten, dass so genannte Sozialisten in Frankreich die These vertreten, nach dem Nein sei die Verfassung tot. Was soll denn jetzt der Madrider Regierungschef Zapatero den Spaniern sagen, die mit 77 Prozent für den Text gestimmt haben? Dass diese Stimmen in den Papierkorb fliegen, nur weil die Franzosen Nein gesagt haben? Wir sind in Europa kein Bundesstaat, sondern ein Staatenbund. Und in diesem Staatenbund hat jedes einzelne Mitgliedsland das Recht, sich zu äußern. Deshalb muss man in vollem Respekt erst einmal abwarten, wie sich alle anderen EU-Mitglieder zur Verfassung stellen. Dann wird man sehen, ob jener Verfassungsartikel zieht, der Folgendes vorsieht: Wenn vier Fünftel der EU-Mitglieder die Verfassung ratifiziert haben, dann gibt es eine Regierungskonferenz.

Aber es ist doch schwer vorstellbar, dass die EU-Verfassung ausgerechnet ohne Europas Gründerstaat Frankreich in Kraft tritt.

Ich teile diese These nicht. Ich weiß aber, was in der Verfassung steht – dass nämlich mein deutsches Votum genauso viel wert ist wie ein französisches. Darauf beharre ich als Europäer. Deshalb sollten erst einmal alle abstimmen. Und wenn 22 Staaten Ja gesagt haben und drei Nein, muss ich dann akzeptieren, dass die 22, die Ja gesagt haben, die Verfassung nicht bekommen, weil drei Nein gesagt haben? Ich bin nicht bereit, das zu akzeptieren.

Was sind die Folgen für die EU-Erweiterung?

Wenn jetzt die Franzosen die notwendige Reform im Inneren der EU erst einmal blockiert haben, dann kann man andere ehrgeizige Projekte sicher nicht ohne Nachdenken vorantreiben. Wer jetzt zunächst einmal überlegen muss, wie es mit der Verfassung weitergeht, muss sicher auch über die Erweiterungsfragen nachdenken. Das gilt nicht für Rumänien und Bulgarien. Der britische Außenminister Jack Straw hat eine notwendige Phase der Reflexion gefordert. Ich teile diese Auffassung. Erst müssen wir notwendige Reformen bei uns durchführen, bevor wir von Beitrittskandidaten weitere Reformen verlangen können.

Das Gespräch führte Albrecht Meier.

Martin Schulz ist

Fraktionschef der

Sozialdemokraten

im Europaparlament.

Der gelernte Buchhändler vertritt

die SPD im EU-

Parlament seit

dem Jahr 1994.

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