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Politik: Erst mal Einheit

Von Andrea Nüsse

Palästina beherrscht am Tag danach nur ein Gefühl: Trauer. Auch die ArafatKritiker sind bewegt, sie empfinden seinen Tod als Einschnitt, als Ende einer Ära. Die tagelange Verwirrung um den Gesundheitszustand des Palästinenserführers hat ein Ende. Der rasche Wechsel von verfrühten Todesmeldungen und Dementis hatte gezeigt: Wie Arafats Leben war auch sein Ende politisch umstritten. Ein Terrorist war er für die einen, würdig für den Friedensnobelpreis für die anderen. Seine Landsleute aber sind sich einig im Lob: Er hat es geschafft, die Palästinenserfrage von einem reinen Flüchtlingsproblem zu einer zentralen Frage der Weltpolitik aufzuwerten. Der eigene Staat allerdings ist bei Arafats Tod noch nicht zum Greifen nah.

Was hoffen und was fürchten die Palästinenser nun? Ihre Gefühle unterscheiden sich von denen der restlichen Welt. Angst vor einem Bürgerkrieg haben die wenigsten. Die Zeichen stehen auf nationale Einheit, die Gewaltbereiten eingeschlossen – zumindest für die nächste Zukunft. Die palästinensischen Interimsführer haben in den vergangenen Tagen ein beeindruckendes Maß an Kooperation und Krisenmanagement gezeigt, die militanten Gruppen Hamas und Islamischer Dschihad ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit signalisiert. Mittelfristig fürchten allerdings auch viele Palästinenser, dass die anstehenden Machtkämpfe innerhalb der zersplitterten Fatah gewaltsam ausgetragen werden könnten.

Draußen in der Welt knüpfen viele an Arafats Tod die Hoffnung, der Friedensprozess bekomme eine neue Chance. Diese Perspektive fürchten viele Palästinenser eher. Denn sie glauben nicht, dass Israels Premier Ariel Scharon seine harte Haltung ändert. Bewegung käme nur auf, wenn die neue Palästinenserführung nachgiebiger wäre als Arafat, zum Beispiel im Ringen um Ostjerusalem oder die Siedlungen in der Westbank. Eben das trauen viele den Männern aus der Clique um Arafat zu, die jetzt seine Nachfolge antreten wollen; sie halten sie für korrupt und nur an Eigeninteressen orientiert. Eine Mehrheit der Bürger würde weitere Zugeständnisse in so grundlegenden Fragen nicht akzeptieren. Bei Arafat waren sie sicher, dass er diese roten Linien verteidigen würde. Da könnte ein Keim für gewaltsame Konflikte in den Palästinensergebieten liegen.

Einen wirklichen Neuanfang nach Arafat würden freie Wahlen markieren. Sie stehen für alle Institutionen an. Innerhalb von 60 Tagen muss laut Verfassung ein neuer Präsident der Autonomiebehörde gewählt werden. Parlamentswahlen sind seit Jahren überfällig, ohnehin geplant waren Kommunalwahlen im Dezember. Dazu müsste sich jedoch die israelische Armee aus den besetzten Gebieten zurückziehen. Bisher drängen nur kleinere Gruppen auf diesen Demokratietest. Doch auch die islamistische Hamas könnte Parlamentswahlen zustimmen. Sie hofft, auf diesem Wege das politische Kapital aus ihrem gewaltsamen Kampf gegen Israel in den jüngsten Jahren zu ernten. Im Gazastreifen wäre ihr der Sieg gewiss, in der Westbank hat sie gegenüber der Fatah stark aufgeholt. Daher sträuben sich die alten Fatah-Veteranen am stärksten gegen Wahlen. Sie haben auch seit Jahrzehnten keine Wahl im Zentralkomitee ihrer Organisation zugelassen; auf die drängt die junge Parteigarde. Die Debatte über Wahlen ist damit der erste Knackpunkt, an dem sich die Geister mittelfristig scheiden könnten. Unmittelbar nach dem Tode der großen historischen Führungsfigur setzen die meisten Palästinenser jedoch auf Einheit.

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