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In Ägypten haben erstmals freie Wahlen begonnen. Das Ergebnis steht erst in einigen Monaten fest.

© dpa

Erstmals freie Wahlen: Ägypten - Demokratie als Experiment

Wem die Ägypter bei den Wahlen ihre Stimme geben, steht in den Sternen. Denn nicht alle haben Verständnis für die Demonstranten. Warum, das wissen am besten - die Taxifahrer.

Dicht drängen sich die Häuser im Herzen Kairos. Riesige Betonklötze, dazwischen alte Kolonialbauten, alle überzogen mit einer graubraunen Patina. Der Sandstaub von Jahrzehnten liegt über der Stadt. Er klebt an den Satellitenschüsseln, die an jedem Balkon hängen, er klebt auf den Reklametafeln, die die Ladenzeilen umwuchern. Doch seit der Revolution gibt es wieder Farbtupfer: „Ana misry!“ prangt auf roten Plakaten, „Ich bin Ägypter!“ Dazwischen Wahlplakate in allen Farben, dicht an dicht. Und Khaled steckt mittendrin. Meter für Meter schiebt sich sein Taxi durch den verstopften Kairoer Verkehr. Khaled ist ein schlaksiger Typ, er wirkt schläfrig, nur seine Augen huschen suchend umher. Fünf Rückspiegel kleben hinter der Frontscheibe, einer links, einer in der Mitte, drei Stück auf der Beifahrerseite. Ständig schaut der 32-Jährige hinein, beobachtet, was hinter ihm geschieht.

Der Blick zurück ist für Khaled dieser Tage wichtig: Ägypten steht vor seiner ersten freien Parlamentswahl nach dem Sturz Hosni Mubaraks. „Ich hoffe auf ein Ende der Revolution“, sagt Khaled. Man solle ihn nicht falsch verstehen, die Revolution habe Ägypten grundlegend verändert. Aber nun, Monate nach den Ereignissen vom Januar und Februar sei das Land im Stillstand gefangen. „Kein Fortschritt, keine Demokratie“, klagt Khaled, nur ständige Unruhen. Er gestikuliert jetzt mit beiden Händen, sein Auto steckt vollends im Stau. „Die Demonstrationen halten die Welt an.“ Dann ruckelt Khaleds Hyundai wieder ein paar Meter weiter Richtung Tahrir-Platz.

Seit Beginn der Revolution am 25. Januar hat der Platz kaum eine Woche ohne Demonstrationen erlebt. Gegen korrupte Minister, gegen Ausgangssperre und Verhaftungen, für neue Gewerkschaften. Immer wieder musste der Militärrat einlenken und Zugeständnisse machen. Daneben versuchte das Militär, mit Gewalt den Willen der Demonstranten zu brechen, setzte Tränengas und sogar scharfe Munition ein. Die Schuld an den Zusammenstößen zwischen Staatsmacht und Tahrir-Demonstranten tragen laut staatlicher Propaganda „Kräfte aus dem Ausland, die das Land zerstören und die Wahlen verhindern wollen“. Denn wer heute auf dem Tahrir-Platz stehe und Ärger mit dem Militär suche, heißt es, habe nichts gemein mit den ehrenwerten Revolutionären, die Mubarak zu Fall brachten. So sieht es auch Khaled, der Taxifahrer: „Das sind nicht mehr die, die die Revolution gemacht haben.“

Khaled fährt seit fünf Jahren Taxi. Er hat kein eigenes Auto. Stattdessen pachtet er eins von einem Bekannten. Ein Taxifahrer kann an einem guten Tag – abzüglich der Pacht–- auf zwei, vielleicht drei Euro kommen. Damit ernährt er seine Familie und finanziert die Wohnung. Wie Khaled leben knapp 40 Prozent der Ägypter an der Armutsgrenze. Weil er keine Taxizentrale hat, die Aufträge vermittelt, muss er ständig zusehen, dass er nicht leer fährt. Also verteilt Khaled seine Handynummer. „Jawohl, mein Herr“, „das mache ich gerne, mein Herr“, „ich hole sie ab“, spricht er mit leiser Stimme ins Handy. „Wir hatten gute Demonstrationen“, sagt Khaled, als er das Handy wieder weglegt. Aber nun müsse man denen, die die Macht übernommen haben, dem Militärrat, eine Chance geben. Fortschritt, so Khaled, werde durch die Demonstrationen nur verhindert.

Viele Ägypter denken wie Khaled. Und Khaled weiß, was die Ägypter denken. Khaled chauffiert Menschen aller Berufsgruppen, jeden Alters und jeder Konfession durch die Straßen Kairos. Wer die Stimmung der ägyptischen Gesellschaft erfühlen will, nimmt Platz in einem der 250 000 Kairoer Taxis und hört einfach zu. So hat es auch der ägyptische Schriftstellers Khaled Al-Khamissi getan. Der Autor lauschte über Jahre den politischen Prognosen, Witzen und Urteilen der Taxifahrer. Im Frühjahr erschien sein Buch „Im Taxi“ auf Deutsch. Auf Arabisch konnte man es bereits 2007 lesen – und erfahren, wie es in Ägypten brodelte. „Die Regierung hat Angst, ihr schlottern die Knie. Ein Windstoß, und sie fällt um“, erzählt ein Fahrer im Buch.

Der Windstoß kam im Januar 2011. Doch die Taxifahrer selbst nahmen nur zögerlich am Protest teil. Es war eine Revolution der Akademiker, nicht der Arbeiter. Hassan war am Tag, bevor Mubarak zurücktrat, zwar auf dem Tahrir, „aber ich habe nicht gerufen“, erzählt er. „Ich war … nun ja, als Zuschauer mit dabei.“ Hassan ist auch Taxifahrer, er jagt sein Auto die Schnellstraße hinter dem Azhar-Park entlang. Eine Umgehungsstraße, doch auch hier drängt sich der Verkehr. Am 11. Februar dann, erinnert sich Hassan, als Mubarak schließlich aufgab, musste er schon wieder arbeiten. „Ein großer Teil der Menschen war sehr glücklich. Aber ich wusste nicht: Ist das richtig oder falsch?“

Sagt Hassan „richtig“ und „falsch“, dann zerhackt er mit seiner rechten Hand die Luft, als könnte er den Fahrgastraum in Pro und Contra unterteilen. Doch in welches Lager er gehört, kann der 41-Jährige selbst nicht sagen. Er fährt seit zehn Jahren Taxi, man sieht ihm an, dass er viel sitzt. Früher einmal sei er Fliesenleger gewesen, aber dann wurde die Auftragslage knapp. Da er einen Führerschein hatte, pachtete er sich ein Auto – „ist besser, als daheim rumsitzen“. Nun ist Hassan sein eigener Chef. Wie ein Dirigent vor dem Orchester sitzt er hinter dem Lenkrad; redet er, wirbeln seine Arme durch die Luft, weisen hierhin, zeigen dorthin. In Ägypten erzählt man sich Geschichten nicht nur mit dem Mund, man erzählt sie mit dem Körper. Als das Referendum zur Verfassungsänderung anstand, habe er sich bemüht, seine Kunden zu verstehen: „Der eine hat versucht, mich zu überzeugen, dass Ja richtig ist, der andere, dass Nein richtig ist. Da hab ich meine Meinung für mich behalten.“ Hassan streckt die rechte Hand von sich wie einen Schutzschild. Seit er ein Kind war, kannte er nur Mubarak. Jetzt soll er zum politischen Menschen werden, jetzt soll seine Stimme plötzlich Gewicht haben?

Die eigene Stimme, von heute an wird sie von allen Ägyptern verlangt. In drei Phasen bis Anfang Januar wird nun ein neues Parlament gewählt. Danach soll eine neue Verfassung und irgendwann die Präsidentschaftswahl folgen. Über 50 Parteien mit knapp 7000 Kandidaten sind zugelassen. Viele Parteien haben sich erst über den Sommer neu gegründet, darunter sozialistische, liberale, säkulare wie auch religiös verwurzelte Parteien. Jeder will am Experiment Demokratie teilhaben – und hat seine eigenen Vorstellungen von Ägyptens Zukunft. Die Muslimbrüder mit ihrer neuen „Partei für Gerechtigkeit und Freiheit“ planen einen demokratischen Staat mit islamischen Rechtsgrundlagen. Unter Mubarak wurden sie stets verfolgt. Das einfache Volk erwartet nun frische Impulse von ihnen. Über ein Drittel der Stimmen versprechen Wahlexperten derzeit den Muslimbrüdern – sie würden damit stärkste Kraft. Chancen hat auch die Wasatiya-Bewegung, die Bewegung der Mitte. In ihr haben sich säkulare wie religiöse Parteien zusammengefunden.

Schließlich gibt es jene Partei, die sich die Ideen der Revolution auf die Fahne geschrieben hat: Hizb al-Adl, die „Partei für Gerechtigkeit“. Sie ist das, was man als die ägyptische Version der Piratenpartei bezeichnen könnte: jung, stark mit der Online-Community vernetzt und bewusst unentschlossen, was ideologische Positionen betrifft. „Wir sind modern, anstatt links oder rechts, uns können die Leute vertrauen.“ Dalia Ziada ist gerade im Kairoer Verkehr unterwegs, Interviews gibt sie aus Zeitgründen fast nur noch am Telefon. Sie kämpft hier nicht nur um Verständnis für ihre Partei, sondern auch gegen den Lärm der Autohupen. Dalia Ziada, 29, will ins Parlament einziehen. „Newsweek“ zählt sie zu den 150 einflussreichsten Frauen der Welt. Sie arbeitet eigentlich als Journalistin, doch dieser Tage ist sie fast nur noch mit dem Wahlkampf befasst. Im Minutentakt twittert sie, was auf den Straßen Kairos los ist. Es sei ihre Aufgabe, sagt sie, den Protest ins Netz zu tragen. Wahlkampf funktioniert bei Dalia Ziada vor allem mit dem Smartphone.

Doch die aktuellen Auseinandersetzungen auf dem Tahrir-Platz verunsichern auch sie. „Das ist eine neue Revolution“, twittert sie, „aber sie ist blutig.“ Und wie alle anderen Netzaktivisten, reicht sie Videos weiter, auf denen man sieht, wie Soldaten erschossene Demonstranten übereinander stapeln. „Zu viel Gewalt, um es zu ertragen“, sagt Ziada. Sie fürchtet ein Militärregime in Ägypten.

Noch liegt die Verantwortung beim Militärrat unter Feldmarschall Muhammad Tantawi, der nach Mubarak die Führung des Landes übernahm. Die Demonstranten skandierten damals „Militär und Volk sind eine Hand!“

Das Bild wandelte sich, als im Frühjahr das Referendum zur Verfassungsänderung anstand. 77 Prozent der Wähler stimmten damals für die Änderung und feierten die Wahl als Geburtsstunde der Demokratie, ihrer Demokratie. Anderthalb Wochen später ersetzte der Militärrat die gesamte Verfassung. Ohne das Volk zu fragen. Es folgten Gesetze über Zensur und Demonstrationsverbote. Blogger wurden verhaftet, Demonstranten erschlagen. Bei einer Demonstration koptischer Christen Anfang Oktober kamen 27 Menschen ums Leben. Das Militär antwortete den Revolutionären mit der gleichen Brutalität wie zuvor die Polizei unter Mubarak. „Wir haben die Schachregeln geändert“, beginnt ein Witz, den man sich mittlerweile in Kairoer Cafés erzählt: „Wenn der König geschlagen ist, ist das Spiel noch nicht zu Ende. Schließlich sind die Soldaten noch auf dem Feld.“

Khaled, der Taxifahrer, versteht den Witz nicht. „Wir haben die korrupten Leute doch aus dem Land gejagt“, sagt er aufgebracht. Man müsse dem Militär Zeit geben, es sei nun die legitime Macht im Land. „Diejenigen, die jetzt Streit mit dem Militär suchen“, sagt Khaled, ganz der Staatspropaganda folgend, seien keine Revolutionäre, sondern Anhänger des alten Regimes, die Unruhe stiften wollen. Stabilität brauche es jetzt, keine weiteren Demonstrationen, „die verhindern doch nur, dass gearbeitet wird“. „Die“, das sind in Khaleds Augen auch die Blogger, die zwar online von einem neuen Ägypten schreiben, aber nicht wüssten, mit welchen Problemen der normale Ägypter zu kämpfen hat. Blogger, Demonstranten, alte Mubarak-Anhänger, „das Volk will eine Rückkehr zur Stabilität“, sagen Taxifahrer wie Khaled. „Das Volk will den Sturz des Militärrats“, skandieren die Demonstranten auf dem Tahrir. 100 000 sind sie, wenn der Platz ganz gefüllt ist. Aber Kairo ist eine Stadt mit rund 20 Millionen Einwohnern.

Dass die Revolution richtig war, da sind sich alle einig. Aber längst nicht jeder begreift sich als ein Kind der Revolution, nicht jeder erkennt einen Nutzen darin, sich auf Twitter und Facebook über demokratische Werte auszutauschen. Es gibt eine Schere zwischen jenen, die von politischer Erneuerung träumen, und jenen, die das Träumen scheuen. Eine Schere zwischen Leuten wie Dalia Ziada, der Wahlkämpferin, und Khaled oder Hassan, den Taxifahrern. „Arbeit“, sagt Khaled kurz und knapp, „das brauchen die Leute.“ „Sicherheit“, sagt Dalia Ziada, „politisch und ökonomisch.“

„Wir, die normalen Leute, sagen ja immer: Möge Gott es fügen, dass uns der regiert, der gut für das Land ist!“ Hassan, der Taxifahrer vom Azhar-Park, bringt es auf diese einfache Formel. „Mein ganzes Leben bin ich morgens aufgewacht und kannte nur Hosni.“ Nun sei er umringt von den Namen der Kandidaten, überall Wahlplakate, Parteiprogramme, Versprechungen. Wieder hebt Hassan seine Hand wie einen Schutzschild.

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