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Der Spitzenkandidat der SPD, Ministerpräsident Erwin Sellering freut sich über den Wahlsieg.

© dpa

Erwin Sellering im Porträt: Ein Wessi, gekommen, um zu bleiben

Erwin Sellering ist seit 2006 Ministerpräsident in Mecklenburg-Vorpommern. Nun steht er vor der Wiederwahl. Was ist sein Rezept?

30 Minuten vor 18 Uhr sitzt Erwin Sellering noch in der kleinen SPD-Landeszentrale in Schwerin, an seiner Seite sein engstes politisches Umfeld und seine Lebensgefährtin mit dem dreijährigen Sohn. Zu diesem Zeitpunkt weiß Sellering schon, dass es gut für ihn ausgehen wird, und so schickt er seine Familie bereits zur Wahlparty.

Sein Sprecher Andreas Timm sieht einen entspannten Chef, so entspannt wie schon lange nicht mehr. Dieses Mal war es ganz besonders knapp, und der 66-jährige Sozialdemokrat, geboren in Sprockhövel, Nordrhein-Westfalen, hatte bis weit in den Sommer hinein nicht wahrhaben wollen, dass er richtig würde kämpfen müssen. So wird er später an diesem Sonntagabend noch sagen: „Das ist ein tolles Ergebnis, ich bin sehr zufrieden. Andererseits machen wir uns über die AfD große Sorgen. Da muss man schauen, wie man damit umgeht.“

Es war also ein sehr komplizierter Wahlkampf, den die SPD in Mecklenburg-Vorpommern führen musste. In den letzten Tagen hat Sellering, seit 2006 Regierungschef, dementsprechend das getan, was ein anständiger Wahlkämpfer eben tun muss, und zwar ohne rot zu werden: Er hat mit Roland Kaiser gesungen, mit dem Warnemünder Shanty-Chor geschunkelt, und natürlich hat er bis zum Schluss unzählige rote Rosen verteilt – am Sonntag darf er dann tatsächlich als Wahlsieger zum Italiener.

Als er im Brinkamas ankommt, ist das Restaurant samt Hofgarten prall gefüllt. Sellering ist hier öfter mal. Menschen, die ihn gut kennen, wissen, dass er „gerne auf dieser Welt ist, gern auch mit einem Glas Wein in der Hand“, wie es ein langjähriger politischer Begleiter ausdrückt. Das „Brinkamas“, einst ein DDR-Konsum, ist deshalb wohl ein guter Ort, um dort die Wahlparty der SPD für ihn auszurichten.

Natürlich wird es sehr laut, als Sellering das Podium betritt, schon zuvor, bei der ersten Hochrechnung, haben die Genossen sehr erleichtert und sehr ausgelassen gejubelt, die Hände gereckt – und danach durchgepustet. Denn nicht nur Sellering selbst, sondern die gesamte Partei war tief verunsichert, als es im Frühjahr plötzlich hieß, dass die CDU vor der SPD liege und die AfD bei damals 19 Prozent. Sellering hatte die Wahl 2011 mit knapp 35 Prozent gewonnen, die Frühjahrsprognose war ein unfassbarer Absturz für die SPD: 22 Prozent! Und schlimmer noch, gibt ein enger Mitarbeiter Sellerings heute zu: „Wir wussten einfach nicht warum.“

Im Frühjahr waren die Genossen im Norden ratlos

Hatten sie nicht versucht, einen harten Konsolidierungskurs zu fahren, zu sparen, hatten gleichzeitig Familien entlastet und in Zukunftsfelder investiert wie etwa die Windenergie? In den Umfragen waren die Menschen mit der Arbeit der rot-schwarzen Regierung zufrieden, 77Prozent bezeichneten ihre persönliche Lage im Frühsommer als positiv, die Arbeitslosenquote war in zehn Jahren halbiert worden, auch wenn sie immer noch eine der höchsten im Bundesdurchschnitt ist, die Wirtschaftskraft wächst, der Tourismus boomt. „Und dann sind da 20 Prozent, die auf Krawall gebürstet sind“, sagte Sellering in einer Fernsehsendung – und es klang beleidigt.

Die Alternative für Deutschland (AfD) hat auch Sellering lange Zeit nicht wirklich ernst genommen. Dabei gab es genug Probleme, die im Land schwelten, vor allem im ländlichen Raum, wo viele sich abgehängt fühlen durch eine Landesstrukturreform, die auch dazu geführt hatte, dass sich der Staat seiner Pflicht zur Daseinsvorsorge immer mehr entzogen hatte – aus Kostengründen. Selbst Sozialdemokraten in Vorpommern kritisierten die eigene Partei hart: Man habe den Draht zur Bevölkerung verloren.

Der Ministerpräsident hat mehrere Regierungsmöglichkeiten

Und nun bleibt die SPD trotz Verlusten stärkste Partei. Unter den Unentschlossenen hat sie vor der AfD die meisten Wähler gewonnen. Und was Sellering selbst kaum mehr erhofft hatte: Er hat mehrere Regierungsmöglichkeiten, allerdings wohl nicht mehr die Lieblingskonstellation. Rot-Rot-Grün hätte er gemacht, auch als Signal an den Bund und an seine eigene Bundespartei. Aber die Grünen sind sehr wahrscheinlich nicht mehr im Landtag vertreten, und nur mit der Linken wird er nicht regieren wollen, zu knapp wäre die Mehrheit. Die Linke unter Helmut Holter würde sehr gerne wieder regieren, schließlich startete von Schwerin einst die erste rot-rote Koalition in einem Bundesland. Mit der CDU könnte Sellering am einfachsten weiterregieren – mit oder ohne den glücklosen Innenminister und Spitzenkandidaten Lorenz Caffier, der ein noch größeres Desaster erlebte als 2011.

Erwin Sellerings politische Geschichte in diesem Bundesland ist auch seine sehr persönliche – denn er ist ein Zugezogener. Und die haben es oben im Nordosten meistens ein bisschen schwerer. Nur auf ihn traf das nicht zu. Als Jurist und Richter kam er 1994 mit 45 Jahren nach Greifswald, um dort als Vorsitzender Richter am Verwaltungsgericht zu arbeiten. Er habe sich, sagte er einmal, „hierher verpflanzt“. Und damit meinte er auch, dass er nicht wieder gehen wolle. Seit 1994 ist er auch SPD-Mitglied und hat seit den Wahlen 1998, wo die SPD erstmals den Ministerpräsidenten stellte, immer ein Regierungsamt inne. Sellering sieht sich selbst als einen „Teil der Erfolgsgeschichte von Mecklenburg-Vorpommern“. Er sieht sich als Aufbauhelfer, und was war er nicht alles: Abteilungsleiter in der Staatskanzlei, Justizminister, Sozial- und Gesundheitsminister und seit 2006 ist er Ministerpräsident – alles dies, sein Lebenswerk, in diesem so strukturschwachen, aber wunderschönen Land, stand plötzlich auf dem Spiel in jenen Frühsommertagen.

Sellering kann auch die Grenzem zum Populismus austesten

Aber Sellering kann, wenn es ihm in den Kram passt, auch Grenzen zum Populismus austesten. Im Bund oder in der Bundes-SPD spielte Sellering kaum eine Rolle, aber wenn er sich mal einmischte, dann richtig. Ein ehemaliger Ministerpräsident sagt: „Der ist manchmal ostdeutscher als die Ostdeutschen.“ Die Rentenanpassung beispielsweise bringe am Ende viel mehr Ärger. Aber Sellering blieb bei diesem Thema beinhart.

Er formulierte auch bei anderen Themen nicht zurückhaltend, etwa, dass die DDR „kein totaler Unrechtsstaat war“. Oder er forderte, gemeinsam mit Altkanzler Gerhard Schröder, schon 2014, mitten in der Krim-Krise und nur ein paar Monate nach der Verhängung der Sanktionen gegen Russland, deren Ende. Mecklenburg-Vorpommerns wichtigster Wirtschaftspartner ist Russland. Die Krise der etablierten Parteien angesichts der immer stärker werdenden AfD hat Sellering schließlich ebenfalls auf seine Weise für die SPD gelöst: Er schob die Schuld am Erstarken der AfD der Kanzlerin zu. In den letzten vier Wochen vor der Wahl redete Sellering beim Thema Flüchtlinge fast nur noch in Sätzen, die auch von der AfD stammen könnten.

Im TV-Duell mit seinem Kontrahenten Lorenz Caffier, den er schätzt und mag, liest der Moderator einen Satz Sellerings vor: „Merkel hat den Eindruck erweckt, als müssten wir grenzenlos Flüchtlinge aufnehmen und jeder, der sich Sorgen mache, rechtsextrem oder ein Dummkopf ist.“ Sellering wehrt sich nicht gegen den Satz, sondern bittet den Moderator, den Satz nochmals vorzutragen, vielleicht habe ihn nicht jeder genau verstanden. Der Moderator ist irritiert, fragt nach, liest nochmals vor. Sellering lächelt zufrieden: Nur beim TV-Duell bekommt man auf einen Schlag so viele Zuhörer. Und seinen Kernsatz, seine Botschaft, hat Sellering übermittelt bekommen.

Am Sonntag, als er nach seinem Auftritt vor den Mitgliedern im Brinkamas durch die Fernsehstudios tingeln muss, bleibt er bei seiner Theorie: „Ich meine in der Tat, dass die Kanzlerin umsteuern muss und nicht einfach sagt ,Ich bleibe dabei: Wir schaffen das’.“ Merkel könne nicht so tun, als ob das alles ganz einfach sei. „Die Menschen haben große Sorgen, und darauf muss man eingehen.“

Vielleicht wusste Sellering, der Zugezogene, besser als die Ostdeutschen selbst, wie sie ticken. Eine Wechselstimmung jedenfalls haben die Demoskopen hier im Bundesland vergeblich gesucht. Ohnehin sind die Menschen in Mecklenburg-Vorpommern stoisch bis stur, und wenn sie ihrem Ministerpräsidenten einmal das Vertrauen geschenkt haben, dann entziehen sie es ihm offenbar nicht mehr.

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