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Politik: „Es ist fast schon tragisch“

Bundestagspräsident Wolfgang Thierse über die Neuwahlentscheidung, soziale Politik – und Weicheier

Herr Thierse, ist die Politik in sieben Jahren unter Gerhard Schröder intellektuell verarmt?

Das würde ja voraussetzen, dass die Politik zu Kohls Zeiten intellektuell reicher gewesen wäre. Daran kann ich mich aber beim besten Willen nicht erinnern.

Wurden die Unterschiede zwischen den Volksparteien während Schröders Kanzlerschaft nicht planiert? Gilt seither nicht für Union und SPD gleichermaßen das Gebot des Pragmatismus?

Die Maßstäbe für Politik haben sich verändert. Über die Situation des Arbeitsmarktes hierzulande wird nicht mehr nur in Deutschland entschieden. Nationalstaatliche Politik hat Handlungsfähigkeit eingebüßt. Das ist eine Folge der Globalisierung. Über den Wert unserer Arbeitskraft wird eben nicht mehr nur innerhalb der deutschen Grenzen entschieden, sondern auch auf dem asiatischen Arbeitsmarkt. Ich beschreibe das so ausführlich, um zu sagen…

… dass die SPD den Sozialstaat vor allem als Kostenfaktor versteht?

Moment einmal, Freunde. Ich sage nur, dass die nationalen Einflussmöglichkeiten geringer werden und damit auch die Unterschiede zwischen den Parteien kleiner erscheinen, während der Problemberg wächst. Dazu kommt, dass nach dem Zusammenbruch des Kommunismus die Neigung zu Visionen erkennbar abgenommen hat. Offensichtlich sind Visionen kollektiv als Illusion denunziert worden. Vielleicht erklärt das den Eindruck, die Politik sei intellektuell ärmer geworden.

Trägt die Bundesregierung Mitverantwortung für die Degradierung des Sozialstaats zum Kostenfaktor?

Widerspruch! Der Sozialstaat ist die größte europäische Kulturleistung. Die soziale Bändigung des Kapitalismus unterscheidet unseren Kontinent mehr als alles andere von anderen Kontinenten. Den Sozialstaat erhält man aber nicht dadurch, dass man sich Reformen verweigert. Es ist doch eine Tatsache, dass Lohnnebenkosten in einem entgrenzten Wettbewerb zum Standortfaktor werden. Darauf muss man ebenso reagieren, wie auf den Umstand, dass wir alle älter werden. Das eigentliche Motiv für die Arbeitsmarktreformen, die Steuerreform und die Sozialreformen war und ist die Bewahrung des Sozialstaates.

Haben die SPD-Wähler diese Motivation nicht verstanden?

Ich behaupte, dass eine Mehrheit der Bevölkerung die Notwendigkeit der Reformen prinzipiell einsieht.

Aber?

Sie sehen es grundsätzlich ein, aber im Konkreten sagen sie nein, weil es schmerzt. Es schmerzt, weil die Veränderungen die Aufkündigung des Gewohnten bedeuten. Es geht um nichts weniger, als das Ende der bundesrepublikanischen Idylle, in der Konflikte stets durch die Verteilung von Zuwächsen befriedet werden konnten.

Die Verteilung von Zuwächsen war über Jahrzehnte Kern sozialdemokratischen Selbstverständnisses. Ist Selbstenttäuschung der tiefere Grund für den Niedergang der SPD?

Ich widerspreche heftig Ihrer Behauptung. Die SPD befindet sich nicht im Niedergang. Aber es ist uns wohl nicht ausreichend gelungen, den sozialen Sinn der Reformen klar zu machen. Es ist fast schon tragisch: Wir Sozialdemokraten haben als Erste mit den Reformen begonnen und damit alle menschlich verständlichen Abwehrkräfte der Gesellschaft gegen uns mobilisiert und nun, da viele dieser Abwehrkräfte überwunden sind, kann vielleicht eine andere Regierung die Früchte dieser Bemühungen ernten.

Vielleicht ist die Reformpolitik von Gerhard Schröder gescheitert, weil sie keinen gedanklichen Überbau hatte, sondern immer nur mit Notwendigkeit und Alternativlosigkeit argumentiert wurde?

Das haben wir so auch nicht getan. Natürlich muss man sich darüber verständigen, was die übergeordneten Ziele von Veränderungen sind. Welche Art von Gesellschaft wollen wir? Was ist unsere Vorstellung von gutem und sinnvollem Leben? Welche Vorstellung von Reichtum haben wir? Diese Debatte ist zu kurz gekommen, aber nicht nur in den letzten sieben Jahren, sondern in den letzten 20. Und heute leben wir in einer Kultur, die bestimmt wird von betriebswirtschaftlichem Denken. Der Mensch wird auf seine beiden marktgerechten Rollen reduziert, nämlich Arbeitskraft und Konsument zu sein. Am deutlichsten drückt sich dieser Zeitgeist in dem Slogan aus: Geiz ist geil.

Womit wir wieder bei der intellektuellen Verarmung wären.

Ja, aber wem wollen Sie diese Verarmung vorwerfen? Eine Bundesregierung ist nicht zuständig für den intellektuellen Reichtum einer Gesellschaft. Sie kann allenfalls an diesem Reichtum partizipieren. Die Verkürzung der gesellschaftlichen Debatte auf Fragen der ökonomischen Effizienz ist ein höchst beunruhigender und beklagenswerter Vorgang. Aber die Gegenbewegung ist nicht Aufgabe der Bundesregierung. Vielleicht wäre Selbstkritik nicht zuletzt der Journalisten hier ein wenig angebracht, die schließlich über Themen und Debatten in der Gesellschaft mitentscheiden.

Ist das nicht auch Aufgabe der SPD?

Natürlich ist das geistige Klima einer Gesellschaft auch Sache einer Partei wie der SPD. Aber alle Versuche, eine Grundwertedebatte zu führen, sind in den Medien auf denkbar geringes Interesse gestoßen.

Wenn es stimmt, dass die Bundesrepublik einen gut Teil ihrer Identität aus Wirtschaftswachstum und der Verteilung von Zuwächsen bezogen hat, muss es jetzt so etwas wie eine Blindstelle geben. Welche Antwort hat die SPD darauf? Welcher Kitt soll die Gesellschaft zusammenhalten?

Die Gesellschaft wird hoffentlich durch einen hinreichend großen gemeinsamen Bestand an Überzeugung zusammengehalten. Die Stichworte lauten: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Humanität und Toleranz, also die Grundwerte unserer Verfassung. Das allerdings muss immer wieder neu belebt werden. Die Linke hat einen Beitrag zum Zusammenhalt der Gesellschaft zu leisten. Sie muss ihre Werte und Ziele hochhalten: Selbstbestimmung des Einzelnen und Emanzipation von Abhängigkeit. Das Ideal einer Gesellschaft, in der wir als Menschen ohne Angst verschieden sein können. Gerechtigkeit im Sinne von gleicher Freiheit. Internationalismus als Verantwortung für den Frieden. Das sind Grundüberzeugungen der Linken!

Kann es sein, dass die Politik in den vergangenen Jahren zu sehr dem Rat von Experten gefolgt ist, anstatt den eigenen Werten und dem eigenen Gefühl?

Ich hoffe nicht, dass Sie sich wünschen, dass Politiker vor allem nach ihrem Bauchgefühl handeln. Man kann demokratischer Politik nicht vorwerfen, dass sie sich beraten lässt.

Viele Sozialdemokraten hatten schon zu Beginn das Gefühl, Hartz IV würde nicht funktionieren. Heute muss die Regierung nachbessern.

Das Verrückte ist doch, dass die meisten Vorwürfe gegen die größte Arbeitsmarktreform in der Geschichte der Bundesrepublik völlig unberechtigt sind. Die PDS hat plakatiert, Hartz IV sei Armut per Gesetz. Jetzt stellt sich heraus, dass viel mehr Menschen staatliche Unterstützung bekommen als vorher. Es gibt also weniger Armut.

Es gibt fünf Millionen Arbeitslose.

Wir sind jetzt bei 4,7 Millionen Arbeitslosen – immerhin 500 000 weniger als im Februar. Aber trotzdem ist die Arbeitslosigkeit unsere offene Wunde. Wir haben Instrumente angewandt, die bisher nicht zu einem relevanten Rückgang der Arbeitslosigkeit geführt haben. Wir glauben aber, dass das noch kommt. Deshalb war ich ja auch der Meinung, dass die Entscheidung falsch war, Neuwahlen jetzt anzustreben.

Haben sich Gerhard Schröder und Franz Müntefering bei der Neuwahlentscheidung vor allem von Emotionen oder von Ratio leiten lassen?

Ich glaube, es war viel Emotion im Spiel. Die Entscheidung hatte vor allem mit der Befürchtung zu tun, die Regierung würde durch die Unionsblockade im Bundesrat bis zum Ende der Wahlperiode gelähmt und die SPD in dramatischer Weise erniedrigt werden.

Weckt es Vertrauen, wenn Schröder jetzt mit einem Wahlprogramm antritt, in dem eine Reichensteuer zur Finanzierung von Bildung und Forschung gefordert wird, obwohl er dies als Kanzler in der Vergangenheit mit aller Macht verhindert hat?

Jetzt legen Sie aber strenge Maßstäbe an. Vor ein paar Tagen haben viele Unionspolitiker die Erhöhung der Mehrwertsteuer noch als schändlich verworfen. Jetzt steht sie im Wahlprogramm der Union. Und da kommen Sie mir mit Äußerungen von Schröder, die zwei Jahre alt sind.

Der Satz: „Ich kann keine andere Politik“ stammt auch von Schröder und ist noch keine zwei Jahre alt.

Man kann einem Kanzler doch nicht vorwerfen, dass er versucht, seine Politik durchzusetzen. Täte er das nicht, wäre er ein Weichei. Im Übrigen müssen auch Politiker das Recht haben, in Sachfragen umzudenken. Die SPD hat den Reformkurs in ihrem Wahlmanifest mit keinem Wort dementiert. Und deshalb hat Gerhard Schröder dem Programm uneingeschränkt zugestimmt.

Schröder hat die Vorgängerregierung öffentlich als Penner bezeichnet. Hätte er dies im Bundestag getan, hätte Parlamentspräsident Thierse ihn dann gerügt?

Man mag über das Wort streiten, ich hätte es vielleicht nicht verwandt. Aber der Vorwurf Schröders an die Opposition ist doch legitim. Die notwendigen Reformen wurden von Schwarz-Gelb in ihrer 16-jährigen Regierungszeit nicht angepackt. Im Übrigen bin ich nicht der Zensor der Republik. Im Wahlkampf darf auch zugespitzt werden.

Handelt es sich bei der Fremdarbeiteräußerung von Oskar Lafontaine auch um eine legitime Zuspitzung im Wahlkampf?

Das ist problematisch, weil es sich um ein Wort aus dem Wörterbuch des Unmenschen handelt. Ich dachte immer, es gehöre zum Grundkonsens der Republik, dass wir uns Anleihen aus Geist und Sprache der Nazis in der politischen Auseinandersetzung nicht erlauben. Es kann auch nicht sein, dass es sich um einen Ausrutscher gehandelt hat. Die Herren Gysi und Lafontaine haben sich in einem Interview ausdrücklich dazu bekannt, Wählerstimmen der NPD gewinnen zu wollen. Sie tun dies, in dem sie sich beim NPD-Klientel anbiedern, die Sprache der Rechtsradikalen übernehmen und Vorurteile und Ängste in der Bevölkerung mobilisieren.

„Kriminelle Ausländer raus, und zwar schnell.“ Halten Sie diesen Satz von Gerhard Schröder für unproblematisch?

Für Kriminelle – ob In- oder Ausländer – muss der Rechtsstaat in gleicher Konsequenz gelten. Ich warne grundsätzlich davor, ausländerfeindliche Emotionen im Wahlkampf zu bedienen – weil die Ausländerfeindlichkeit dadurch genährt und stabilisiert wird.

SPD-Fraktionsvize Ludwig Stiegler hat den Slogan der Union „Sozial ist, was Arbeit schafft“ mit der Naziparole „Arbeit macht frei“ verglichen.

Franz Müntefering und ich selbst haben diese Äußerung sofort kritisiert und Stiegler hat sich noch am selben Tag dafür entschuldigt.

Die SPD hat früher plakatiert: Arbeit, Arbeit, Arbeit. Wo ist der Unterschied zur Formel der Union?

Sozial ist, was Arbeit schafft – das stimmt nur, wenn man von dieser Arbeit menschenwürdig leben kann. Der geheime Nebensinn dieser CDU-Losung ist aber, soziale Untaten zu rechtfertigen, Frau Merkel verfolgt eine im Grunde unsoziale Politik. Die Union verfährt nach der Devise: Wenn es der Wirtschaft gut geht, geht es allen gut. Es hat sich aber leider gezeigt, dass dieser Ansatz falsch ist. Man kann Reformen einleiten, die wirtschaftliches Wachstum befördern und zugleich Armut verschärfen. Das ist das Problem, das wir Sozialdemokraten mit solchen Sätzen haben.

Herr Thierse, Sie lehnen eine große Koalition als verhängnisvoll ab, glauben aber an die Notwendigkeit von Reformen. Wäre ein Bündnis mit der CDU nicht auch eine Chance, die Bürger von den Reformen zu überzeugen und die sozialen Sicherungssysteme auf Vordermann zu bringen?

Über Koalitionsmöglichkeiten entscheiden die Wähler. Eine große Koalition würde die Unterschiede zwischen den Volksparteien verwischen. In der Demokratie haben die Wähler aber ein Anrecht auf klare Alternativen.

Wäre es weniger verhängnisvoll, wenn Rot-Grün weitere vier Jahre gegen einen unionsdominierten Bundesrat anregieren müsste?

Wir bitten um eine neue Legitimation durch die Wähler. Wenn wir sie bekommen, wären wir gegenüber dem Bundesrat erheblich gestärkt. Blockaden kann sich die Union dann nicht mehr leisten.

Vielleicht gibt es aber eine Sehnsucht der Wähler nach klaren Verhältnissen im Parlament und in der Länderkammer.

Ich glaube nicht, dass die Wähler die absolute Einseitigkeit wollen. Im Übrigen sollte man sich von Angela Merkels seltsamen Ankündigungen – sie werde „durchregieren“ – nicht zu sehr beeindrucken lassen. Die CDU-Ministerpräsidenten werden es einer Kanzlerin Merkel ziemlich schwer machen. Und vielleicht kommt es ja auch ganz anders und das Bundesverfassungsgericht lässt Neuwahlen gar nicht zu. Dann wäre Rot-Grün durch einen höchstrichterlichen Spruch dazu verurteilt, „durchzuregieren“ – und Angela Merkel bliebe auf der Oppositionsbank. Wer weiß.

Das Gespräch führten Stephan-Andreas Casdorff, Stephan Haselberger und Lorenz Maroldt. Foto: Mike Wolff

DER GERMANIST

Mit Parteien hatte Wolfgang Thierse den größeren Teil seines Lebens nichts am Hut. Zu DDR-Zeiten war der Bundestagspräsident nämlich parteilos. Thierse, 1943 in Breslau geboren, in Weimar zum Schriftsetzer ausgebildet, seit 1964 Germanistikstudent an der Humboldt-Uni in Berlin, war von 1977 an Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften der DDR – und zwar im Zentralinstitut für Literaturgeschichte, nach einem Intermezzo im Ost- Berliner Kulturministerium.

DIE WENDE

1989 kam Thierses Hinwende zur aktiven Politik: Im Oktober trug er sich beim Neuen Forum ein. Doch im Januar 1990 wurde er Mitglied der SPD. Und fortan machte der Germanist Thierse eine steile politische Karriere.

DER OST-MANN

Thierse wurde Abgeordneter der demokratisch gewählten Volkskammer im März 1990. Zuerst war er Fraktionsvize der SPD, bald schon Fraktionschef. Nach dem Rücktritt Ibrahim Böhmes wurde er zudem Vorsitzender der Ost-SPD. Er stimmte gegen die Wiedervereinigung und war für einen erneuerten Sozialismus in der DDR.

DER PARTEILINKE

Als die Einheit dennoch kam, wurde Thierse Mitglied des Bundestags. Die SPD wählte ihn zum Vizevorsitzenden, was er bis heute geblieben ist. Sein Wahlkreis ist Mitte/Prenzlauer Berg. Bis 1998 war Thierse, der zur Parteilinken zählt, Fraktionsvize. Im Oktober 1998 wurde er zum Bundestagspräsidenten gewählt. Tsp

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