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Eskalation in Stuttgart: Frontal zusammengestoßen

Die Proteste gegen das Bahnprojekt sind am Donnerstagabend eskaliert. War der Polizeieinsatz verhältnismäßig, und wie geht es weiter?

Die Bilanz ist verheerend. Mindestens 130 verletzte Demonstranten, sechs verletzte Polizisten; 30 Strafanzeigen und 29 Festnahmen, aber auch erschreckende Bilder wie das eines blutenden Rentners, der angeblich von einem Wasserstrahl aus kurzer Distanz mitten ins Gesicht getroffen wurde. Am Freitagmorgen wurden im Stuttgarter Schlosspark die ersten 25 der knapp 300 alten Bäume gefällt, die für Stuttgart 21 weichen sollen. Tausende Demonstranten hatten zuvor lautstark und heftig dagegen protestiert, die Polizei ging ungewöhnlich hart gegen sie vor. Stuttgart 21 sieht den Umbau des Kopfbahnhofs in eine unterirdische Durchgangsstation und deren Anbindung an die geplante ICE-Neubaustrecke nach Ulm vor. Die Bahn rechnet mit Kosten von sieben Milliarden Euro. Kritiker befürchten eine Kostensteigerung auf bis zu 18,7 Milliarden Euro. Nach der Eskalation beruhigte sich die Lage bis zum Morgen. Bundesweit herrschte dennoch Entsetzen darüber, wie der Streit so eskalieren konnte.

Wie kam es zu der Eskalation?

Für den Stuttgarter Polizeipräsidenten Siegfried Stumpf entstand im Schlossgarten plötzlich „eine gänzlich andere Dimension“. Bislang hätten seine Beamten immer entlang einer „Linie der Vernunft“ arbeiten können, hätten Demonstranten einfach wegschicken, abdrängen oder wegtragen können. Auch am Donnerstag sei man zunächst von einem normalen Polizeieinsatz ausgegangen. Weil die abzusperrende Baufläche für den neuen Bahnhof jedoch einen langen Zaun erfordert, wurden 700 Beamte, darunter je eine Hundertschaft aus Hessen, Rheinland- Pfalz, Nordrhein-Westfalen und Bayern, zusammengezogen.

Diese Polizisten trafen am Nachmittag auf bis zu 5000 Protestierende – mitnichten lauter friedfertige, wie sie sagen. „Vor dem Einsatz der Wasserwerfer geschah vieles, was mit einer friedlichen Demonstration nichts zu tun hat“, sagte Stumpf. Steine, Flaschen und Pyrotechnik seien geworfen, Reizgas versprüht worden. Die Wasserwerfer habe man „nicht zu früh eingesetzt; wir haben es vorher eine Stunde mit Reden und Wegdrängen versucht“, sagte der Polizeipräsident. Wasserwerfer seien das mildeste Mittel, weit vor dem Einsatz von Reizgas und Schlagstöcken. Trotzdem meldete die Rettungsleitstelle tags drauf mehr als hundert Verletzte.

War der Einsatz unnötig gewalttätig?

Nein, sagt zumindest Stuttgarts ranghöchster Polizist. Man habe fünf Stunden gebraucht, um 300 Meter Gitter aufzustellen. „Brachial wäre das schneller gegangen.“ Landesinnenminister Heribert Rech (CDU) sagte mit Blick auf die zahlreichen Verletzten, er sehe bislang „keine Anhaltspunkte dafür, dass auf Seiten der Polizei was schiefgelaufen ist“. Dass auch Mütter mit Kindern weggetragen wurden – eine „einfache Maßnahme der Polizei“ – könne für diese nicht sonderlich überraschend gewesen sein. Die Polizisten seien „entsetzt gewesen“ über die „Aggressivität, die ihnen da entgegengeschlagen“ sei. Es sei „bestürzend“, dass man zur Sicherung eines Baugeländes mit 20 bis 25 Bäumen 600 Polizeibeamte einsetzen müsse.

Problematisch ist aber vor allem, dass auch viele minderjährige Schüler, die zuvor an einer Demonstration teilgenommen hatten, verletzt wurden. Die Räumung des Schlossgartens wurde bereits vor vier Wochen fixiert, die Schülerdemo aber erst am Tag davor genehmigt. Aus rechtlichen Gründen habe man sie weder verbieten noch verlegen können, sagte Rech. Kultusministerin Marion Schick (CDU) mahnte, Kinder nicht in solche Situationen zu bringen und gegen das Bahnprojekt zu instrumentalisieren. Falls es stimme, dass die Schüler von Lehrern während der Unterrichtszeit begleitet worden seien, könne man diese Verletzung der Dienstpflicht nicht akzeptieren. Auch die Polizeigewerkschaft bezeichnete den Einsatz als „vollkommen angemessen“.

Die Demonstranten schieben die Verantwortung für die Eskalation dagegen auf die Polizei. Grünen-Chef Cem Özdemir kritisierte die Landesregierung und erhob schwere Vorwürfe gegen Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU): „Herr Mappus wollte hier Blut sehen“, sagte Özdemir am Freitagabend in Stuttgart. Es sei skandalös, Schüler und ältere Damen mit Pfefferspray zu besprühen. Das mache man nicht in einem Rechtsstaat. Die Gewalt sei unverhältnismäßig gewesen.

Wie reagiert die Union in Berlin?

Die Bundeskanzlerin versuchte am Freitag, die Wogen zu glätten. Die Auseinandersetzung sei „betrüblich“, sagte Angela Merkel (CDU). Es müsse alles vermieden werden, was zu Gewalt führen könne. Sie verwies aber auch darauf, dass das Projekt demokratisch zustande gekommen sei und die Bauherren ein Recht darauf hätten, es umsetzen zu können.

Doch so manchem in der CDU-Spitze haben die Bilder aus Stuttgart gar nicht gefallen. Führungsleute äußerten am Freitag blankes Unverständnis für die Eskalation in Stuttgart. Mappus habe unlängst im Präsidium selbst eingeräumt, dass er im Umgang mit den Protesten Fehler gemacht habe. „Wir hatten eigentlich danach alle den Eindruck, dass die Dinge jetzt in ein ruhiges Fahrwasser kommen“, sagte ein Präsidiumsmitglied. Die Bilder von Polizisten, die „mit Wasserwerfern gegen Bürgerkinder“ vorgingen, schadeten massiv der Glaubwürdigkeit der Verantwortlichen. „Und das gerade in einem Moment, in dem sich die Stimmung langsam für uns zu drehen schien“, sagte ein anderer aus dem Führungskreis.

Besorgt über das gewaltsame Vorgehen der Polizei äußerte sich auch der Vorsitzende des Bundestagsinnenausschusses, Wolfgang Bosbach (CDU). „Das ist das Gegenteil von dem, was wir erreichen wollten“, sagte er. Nun müsse geklärt werden, wer der Polizei welche Anweisungen erteilt habe und wie es zu der Eskalation kommen konnte.

Gibt es ein bundespolitisches Nachspiel?

Auf Antrag der Linkspartei trat am Freitagmorgen der Innenausschuss des Bundestags zusammen. Allerdings will sich das Gremium erst am kommenden Mittwoch ausführlich mit dem Thema befassen. Am Freitag hätten Bundesregierung und Bundespolizei lediglich die Formalien geschildert, sagte Bosbach.

Linke und Grüne hatten auch eine Aktuelle Stunde im Parlament beantragt, die mit der schwarz-gelben Koalitionsmehrheit abgelehnt wurde. „Der Antrag ist politisch schädlich“, da parteipolitisch motiviert, sagte der Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, Peter Altmaier (CDU). Bisher wisse man nicht genug über den Polizeieinsatz. „Wir wollen nicht, dass diese Debatte mit Vorverurteilungen und Verdächtigungen geführt wird.“ Zudem seien Änderungen der Tagesordnung bis zum Vortag um 18.00 Uhr einzubringen. Den Antrag habe man aber erst um 20.44 Uhr bekommen.

Wie geht es nun weiter?

Mappus zeigte sich am Freitag betroffen und erneuerte seine Gesprächsbereitschaft. Vor allem wolle er mit einer Gruppe aus der Schülerdemo reden. Er betonte aber auch: „Niemand steht über dem Recht.“ Die Parkschützer lehnten das Gesprächsangebot umgehend ab. Mappus habe Fakten geschaffen, nur um seine Macht zu demonstrieren. Nur nach einem Baustopp seien Gespräche möglich, sagte eine Sprecherin.

Was würde ein Baustopp kosten?

Um den Dialog zwischen Bahnhofsfreunden und -gegnern wieder aufzunehmen, gab es schon mehrere vergebliche Anläufe. An einem Baustopp hat die Bahn aber kein Interesse. Sie hat Verträge mit Baufirmen geschlossen, mit Lieferterminen und Fristen. Bei einer oder mehreren Wochen Stillstand würde die Planung über den Haufen geworfen, das würde viel Geld kosten. Eine genaue Zahl nennt die Bahn nicht, angesichts der Größe des Projekts dürfte es aber mindestens um mehrere Tausend Euro pro Tag gehen. „Ich bin sicher, dass der Bahnhof kommt“, sagte denn auch Bahnchef Rüdiger Grube der „Süddeutschen Zeitung“.

Zugleich hätte ein Baustopp eine hohe Symbolwirkung – für die Gegner wäre es ein Etappensieg. Je länger ein solcher Stopp dauern würde, desto schwieriger würde es, wieder mit den Arbeiten zu beginnen. Zumal Ende März in Baden-Württemberg gewählt wird. Kommt ein strenger, langer Winter, würde womöglich vor dem Urnengang nicht mehr viel passieren. Den Grünen wäre das nur recht, der Landesregierung und der Bahn natürlich nicht. Sie hoffen darauf, dass trotz der jüngsten Eskalation die Proteste allmählich abebben. Denn symbolträchtige Baumfällungen wie Donnerstagnacht stehen vorerst nicht mehr an. mit dapd/AFP

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