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ESM-Klage: Karlsruhe lässt sich Zeit

Das Bundesverfassungsgericht soll über Eilanträge gegen ESM und Fiskalpakt entscheiden. Wie liefen die Verhandlungen?

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Der Vorgang ist ungewöhnlich, aber der Lage angemessen. Normalerweise lädt das Bundesverfassungsgericht die Kläger und die Beklagten erst im Hauptverfahren zur Anhörung; über eine Einstweilige Anordnung entscheidet man in Karlsruhe gewöhnlich nach Aktenlage. Im Verfahren um den europäischen Fiskalpakt und den Euro-Rettungsschirm ESM aber zogen es Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle vor, schon vor dem Eilentscheid die Beteiligten ausführlich zu hören. Dahinter steckte, wie sich sehr schnell zeigte, eine Idee. Und hinter der Idee steckt ein Dilemma.

Andreas Voßkuhle scheint alle Zeit der Welt zu haben, den Eindruck machte er zumindest am Dienstag bei der Anhörung des Verfassungsgerichts zu den Beschwerden gegen ESM und Fiskalpakt in Karlsruhe. Der Präsident des Gerichts fragt den Bevollmächtigten der Bundesregierung, Ulrich Häde: „Wieviel Zeit würden Sie uns denn geben?“ Häde weicht der Frage zunächst aus und umschmeichelt die Richter mit dem Hinweis darauf, dass er ihnen eine gründlich und zügige Prüfung zutraue. Voßkuhle gibt sich damit nicht zufrieden und bohrt weiter: Welcher zeitlicher Rahmen ihm vorschwebe? Drei Wochen würde er sehr unterstützen, sagt Häde. Einige Wochen länger wären aber auch noch „erträglich“.

Video: So war der erste Verhandlungstag

Häde wird diese zusätzliche Zeit wohl auch ertragen müssen. Voßkuhle kündigt nämlich eine „verfassungsrechtlich vernünftige Prüfung“ der Klagen an. Die Dauer eines normalen Eilverfahrens werde dabei aller Wahrscheinlichkeit nach überschritten. Bis zu drei Monate könne die Prüfung dauern, vermutet man in Karlsruhe.

Der Präsident des Verfassungsgerichts steht seit Wochen unter Druck. Nicht nur die Bundesregierung, der Bundestags beobachten derzeit jeden Schritt der Richter an Deutschlands höchstem Gericht – ganz Europa klebt an ihren Lippen. „Viele werden sich schon mal gewünscht haben, Verfassungsrichter zu sein“, sagt Gregor Gysi und bringt Voßkuhle zum Grinsen. Dann fährt Gysi fort: „Aber heute will wohl niemand mit Ihnen tauschen.“ Da nickt der Gerichtspräsident. Doch der Richter mit den jugendlichen Gesichtszügen lässt sich den Stress nicht anmerken. Ruhig stellt er seine Fragen, keine Spur von Nervosität davon, dass die ganze Republik ihm über die Schultern schaut.

Der 48-Jährige wird sich daran gewöhnt haben, dass man in Berlin in den Verfassungsrichtern schon aus Tradition nur die granteligen Damen und Herren aus der südwestdeutschen Provinz sieht. Nicht erst seit gestern stellt man sich in der Hauptstadt die Frage, was man in Karlsruhe schon von Europa wisse. Als Voßkuhle, damals noch als Vizepräsident, mit dem Urteil zum Lissabon-Vertrag die Europapolitik der Bundesregierung in ihre Schranken wies, polterte Ex-Außenminister Joschka Fischer, die Realitäten Europas seien „komplizierter als die Karlsruher Fiktionen“. Drei Jahre später rangeln das Gericht und Berlin erneut um Europa. An den Vorwürfen hat sich nichts geändert. Die Urteile der Richter seien „teilweise von großer Unkenntnis geprägt“, zischte der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz (SPD), in der vergangenen Woche.

Das Gericht antwortet auf solche Vorhaltungen natürlich nicht. Aber ganz konnte und mochte sich Voßkuhle eine Replik nicht verkneifen: „Europa fordert den demokratischen Verfassungsstaat ebenso wie der demokratische Verfassungsstaat Europa fordert“, sagt er in seinen einleitenden Worten. „Wer dieses Verhältnis zu einer Seite auflöst, verliert die andere Seite.“

Schäuble argumentiert für die Freigabe

In der Verhandlung ist der gegenseitige Argwohn kein Thema. Formal geht es ja auch erst einmal nur um die Einstweilige Anordnung. Und in der geht es darum, was folgenreicher wäre: Ein vorläufiger Stopp von ESM und Fiskalpakt oder eine Freigabe? Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) argumentiert in diese Richtung, wenn er gefragt wird: „ESM und Fiskalpakt sind unerlässlich bei der Bewältigung der Krise“, sagt Schäuble. Sollte das Rettungsdoppel zu spät kommen, würde das zu „erheblichen Verwerfungen“ in Europa und zu „unabsehbaren Folgen" weltweit an den Märkten führen.

Der CSU-Politiker Peter Gauweiler will das nicht gelten lassen. Mit dem ESM-Vertrag werde ein Haftungsautomatismus ausgelöst, der von Deutschland nicht mehr beherrscht werden könne, das sei „unverantwortlich“. Durch die Hilfszahlungen werde ein „Kreditwettlauf“ ausgelöst und Spekulationen begünstigt, sagt Gauweiler, der einer der Kläger ist. „Was uns als Rettung verkauft worden ist, hat die Staaten weder gestärkt noch stabilisiert. Im Gegenteil: Europa ist heute schwächer als zuvor.“

Verfassungsrichter Peter Müller versucht später noch mal, Finanzminister Schäuble aus der Deckung zu locken. Der frühere saarländische Ministerpräsident fragt nach den Vorwürfen des Gauweiler-Vertreters Dietrich Murswiek, wonach die Bundesregierung die Entscheidung über ESM und Finanzpakt und vorsätzlich hinausgezögert habe, um eine rechtliche Überprüfung zu torpedieren. Da wird Schäuble, der bis dahin meistens stumm an seinem Platz gesessen hatte, denn doch munter. Entschlossen weist er die Vorwürfe zurück: Man habe erst die Entscheidungen des europäische Rats abwarten müssen, das sei der einzige Grund für den Zeitpunkt.

Gauweiler hakt hier wieder ein: Das ganze parlamentarische Verfahren, beklagt der CSU-Politiker, sei nicht ordnungsgemäß abgelaufen. So sei verhindert worden, kritische Experten-Stimmen in den Haushaltsausschuss einzuladen. Man habe länger über das Rederecht der ESM-Gegner bei der Debatte diskutiert als über den Nachtragshaushalt für den ESM. Dem widerspricht der CDU-Abgeordnete Gunter Kriechbaum: Es habe über 150 Ausschussdrucksachen gegeben und eine Expertenanhörung.

Voßkuhle versucht, die Wogen zu glätten

Auch wenn Gerichtspräsident Voßkuhle an diesem Nachmittag nicht den Streit zwischen den Parteikollegen schlichten kann, versuchte er, die Wogen zu glätten und gleichzeitig um Verständnis für die Mammutaufgabe des Gerichts zu werben: „Nach alledem zeigt sich, dass die Entscheidungsfindung in mehrfacher Hinsicht nicht einfach ist.“ Gebe das Gericht dem Bundespräsidenten grünes Licht, führe das zur Unterzeichnung von völkerrechtlichen Verträgen. Diese könnten nicht mehr aufgelöst werden, selbst wenn das Gericht in der Hauptverhandlung zu dem Ergebnis komme, dass die Regelungen nicht mit der Verfassung im Einklang stehen. Andererseits, er könne sich schon ganz gut die Schlagzeilen einer internationalen Presse ausmalen, die mit den Feinheiten des deutschen Gerichtswesens nicht vertraut sei: Ein vorläufiger Stopp von ESM und Fiskalpakt im Eilverfahren werde da schnell zu der Schlagzeile „Euro-Rettung gescheitert.“

Für welches Verfahren sich das Gericht jetzt entscheidet, war am Dienstagnachmittag nicht absehbar. Und dann bleibt in jedem Fall ja noch die Sache selbst. Auch darum sind die Richter nicht richtig zu beneiden. Das System zur Euro-Rettung, räumt Voßkuhle ein, sei „eine relativ komplexe Anlage, die es auch dem Gericht schwer macht, Boden unter den Füßen zu gewinnen“.

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