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George W. Bush

© dpa

Essay: Nach Bush

Europa hat eine große Chance: den Machtwechsel in Washington. Er eröffnet die Möglichkeit für einen transatlantischen Neuanfang. Ein Essay von Wolfgang Ischinger.

Eines vorweg: Der nächste amerikanische Präsident wird vor größeren innen- und außenpolitischen Schwierigkeiten stehen als jeder amerikanische Präsident seit Franklin D. Roosevelt. Wer immer die Wahl am 4. November gewinnt – dieser Präsident wird nicht zu beneiden sein. Sein Spielraum zur Verwirklichung großer neuer Projekte in der amerikanischen Innenpolitik, etwa in der Gesundheits- und Sozialpolitik, wird angesichts der wachsenden Defizite gegen null schrumpfen, und protektionistische Versuchungen werden in Washington wieder wachsen. Leicht wird er es nicht haben, der Präsident Obama oder McCain.

Wir sollten allerdings die USA nicht voreilig abschreiben. Das wäre genauso falsch wie das Gegenteil, nämlich die in Berlin und anderswo in Europa grassierende Obamania, die ein transatlantisches Paradies erträumt.

Jedenfalls unterschätzen diejenigen, die schon jetzt Kassandrarufe auf den Niedergang der USA als Weltmacht von sich geben, die enorme Flexibilität der amerikanischen Wirtschaft. Ist es denkbar, dass es den USA rascher als uns Europäern gelingen wird, die Folgen der gegenwärtigen Krise zu verdauen – und zwar ohne Rückgriffe auf die marxistische Mottenkiste, die ja hierzulande inzwischen von einigen fröhlich ausgepackt wird – und ihren Rang als politisch-militärische Zentralmacht ebenso wie als größte Volkswirtschaft zu behaupten? Wie sagte doch Mark Twain: Die Nachricht von meinem kürzlichen Ableben ist stark übertrieben.

Der scheidende amerikanische Präsident George W. Bush hinterlässt eine dreifache Krise: eine tiefgreifende und noch nicht überwundene Krise des Vertrauens in die Rolle und die Verlässlichkeit der amerikanischen Führungsmacht; eine sich beschleunigende Systemkrise der globalen Finanzmärkte, die ihren Ausgang in den USA genommen hat und sich zu einer globalen Rezession zu verdichten droht; und eine Krise bei der Bewältigung sicherheitspolitischer und globaler Herausforderungen – vom belasteten Verhältnis Nato – Russland über Afghanistan, Irak und Iran zum Quasi-Stillstand in der Abrüstungspolitik ebenso wie im Nahost-Friedensprozess und beim Klimaschutz, um nur einige Beispiele zu nennen.

Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass Krise das Wort des Jahres sein wird. Was bedeutet das für uns, für die europäischen und deutschen Interessen? Was tun?

Ganz unabhängig von der Frage relativer Macht und Stärke: Der Zwang zu engerer transatlantischer Zusammenarbeit wird angesichts der Dreifachkrise nicht geringer, sondern stärker werden, und wir Europäer haben nach den US-Wahlen keinen Vorwand mehr, um dieser Zusammenarbeit nicht unsere ganze Aufmerksamkeit zu widmen. George W. Bush hat es populär gemacht, Washington gegenüber auch einmal Nein zu sagen. Die europäischen Interessen und die Vernunft gebieten es, ab sofort die Chance und die Notwendigkeit einer erneuerten transatlantischen Zusammenarbeit beherzt zu ergreifen.

Die Chance beherzt zu ergreifen, heißt aber nicht, auf die Inaugurationsrede des nächsten Präsidenten im Januar zu warten und sich bis dahin vor US-Forderungen nach höheren Truppenstärken in Afghanistan zu fürchten. Europa darf sich nicht benehmen wie das Kaninchen, das gebannt vor der Schlange sitzt. Stattdessen bietet sich jetzt eine fast einmalige, historische Chance für die Europäische Union. Jetzt, in der Übergangszeit nach den US-Wahlen, sollte Europa an die USA mit einem umfassenden Angebot der Zusammenarbeit herantreten, gekoppelt mit konkreten europäischen Erwartungen in Einzelfragen.

Nichts funktioniert ohne Vertrauen

Was könnten Punkte sein, die die Europäische Union gegenüber dem künftigen Präsidenten und seinem Übergangsteam vortragen sollte? Nachfolgend eine beispielhafte und natürlich unvollständige Liste:

1. Nichts wird transatlantisch funktionieren ohne eine erneuerte Vertrauensbasis. Dafür schafft schon allein der neue Mann, das neue Gesicht, im Weißen Haus eine wichtige Grundvoraussetzung. Aber wir müssen uns darüber hinaus unserer gemeinsamen Wertebasis vergewissern: nämlich des gemeinsamen europäisch-amerikanischen Erbes der Werte der Aufklärung. Wenn der Begriff des Westens nicht untergehen soll, dann müssen USA und Europa sich erneut zu den Grund- und Freiheitsrechten, zur Würde und zum Rang des Individuums bekennen und damit Vorgänge wie Folter und Guantanamo ein für allemal beenden. Nur so, mit höchsten moralischen Ansprüchen an das eigene Verhalten, wird der Westen Respekt und Sympathie weltweit wiedererringen können.

2. Die Europäische Union sollte den USA eine umfassende Krisenpartnerschaft anbieten, und zwar sowohl mit Blick auf die aktuelle Weltwirtschafts- und Finanzlage als auch mit Blick auf die notwendige Reform und Neulegitimierung der globalen Ordnung. Mit dem transatlantischen Einvernehmen über eine Serie von Gipfeltreffen zur Finanz- und Wirtschaftslage, die Mitte November in Washington ihren Auftakt erleben soll, ist ein guter Anfang gemacht. Aber auch der von der Bundesregierung 2007 initiierte transatlantische Wirtschaftsrat sollte genutzt werden, um mit mehr gemeinsamen transatlantischen Regeln und Normen aus dieser Krise herauszufinden. Die letzte Sitzung dieses neuen Gremiums ist bedauerlicherweise abgesagt worden. Wir sollten darauf drängen, dass der Rat sofort nach dem Amtsantritt der neuen US-Administration zusammentritt und das Mandat erhält, den Weg für einen kohärenteren transatlantischen Wirtschaftsraum zu ebnen.

Jede Krise bietet Chancen, so auch die gegenwärtige. Wenn nicht jetzt ein Anlauf unternommen wird, um die Legitimation der internationalen Institutionen zu erneuern und damit die globalen Strukturen nachhaltig zu stärken, die im ureigenen Interesse des Westens die Wahrung des Rechts, den globalen Warenaustausch und die internationale Stabilität fördern, verpassen wir eine historische Chance. Vom VN-Sicherheitsrat über die G8, die längst eine G13 sein sollten, bis hin zur Rolle des Internationalen Währungsfonds – jetzt ist der Moment für eine umfassende Reform gekommen. Angesichts der sich verändernden Gewichtsverteilung in der Welt, mit wachsenden Ansprüchen nichtwestlicher Staaten wie China, Indien, Brasilien etc., wird der Westen schon in wenigen Jahren nicht mehr die Gestaltungsmacht haben, über die er in den Jahrzehnten des Kalten Krieges und noch danach verfügte. Sowohl der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen wie der IWF sollten in ihrer Zusammensetzung beziehungsweise Stimmengewichtung nicht das Jahr 1948, sondern das Jahr 2008 reflektieren und so neue Legitimität und mehr Effektivität erlangen.

3. Die Europäische Union sollte dieses umfassende Angebot enger transatlantischer Zusammenarbeit und Partnerschaft koppeln mit einigen konkreten Erwartungen an die amerikanische Adresse. Drei Beispiele:

Russland: Das amerikanisch-russische Verhältnis ist gestört. Die Intensität amerikanisch-russischer bilateraler Konsultations- und Verhandlungsgremien ist seit den Zeiten von Bill Clinton fast auf null gesunken. Nichts bewegt sich zurzeit im Bereich der Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik. Beide Seiten gefallen sich vielmehr darin, Waffensysteme zu errichten, als wären wir wieder im Kalten Krieg. Wir sind aber nicht im Kalten Krieg, und niemand will dahin zurück. Europa hat jedes Recht, neue abrüstungs- und rüstungskontrollpolitische Initiativen zu fordern, einschließlich im Bereich der nuklearen Nichtverbreitung. Unsere Erwartung an die amerikanische Seite sollte deshalb darauf abzielen, dass es zu einer umfassenden Wiederbelebung des strategischen amerikanisch-russischen Dialogs kommt. Der neue US-Präsident kann mit einer entsprechenden Offerte gegenüber Moskau das Gesamtklima zwischen Nato und Russland auf einen Schlag entscheidend beeinflussen und damit zugleich die Reihen des Westens schließen, damit wir Moskau gegenüber nachhaltiger mit einer Stimme sprechen können.

Nato: Was das Thema Nato-Erweiterung anbetrifft, ist eine Rückbesinnung auf die erste Nato-Erweiterungsrunde 1997 hilfreich. Damals stützten wir uns auf zwei parallele Initiativen, die gleichgewichtig vorangetrieben wurden, nämlich die Erweiterung des Bündnisses um neue Mitglieder einerseits und den Aufbau eines neuen und kooperativen, institutionell untermauerten Nato-Russland-Verhältnisses andererseits. Es war ein Fehler, den Nato-Russland-Rat angesichts der Georgienkrise nicht einzuberufen. Dieses Gremium war doch nicht als Schönwetterkommission gedacht.

Präsident Dmitri Medwedew hat bisher noch keine umfassende westliche Antwort auf seine drängenden Fragen nach einer künftigen, erneuerten europäischen Sicherheitsarchitektur erhalten. Diese Antwort sollte das Bündnis spätestens bei seinem Gipfel im April 2009 formulieren, und die Münchner Sicherheitskonferenz im Februar kann für Denkanstöße ein vorzügliches Forum bieten.

Mit Teheran muss Tacheles geredet werden

Iran und Naher Osten: Unsere Erwartungen an Washington sind klar. Bitte nicht noch einmal jahrelanges Abwarten, sondern unverzügliches Wiederaufgreifen des arabisch-israelischen Friedensprozesses, einschließlich der syrischen Frage. Da aber gerade im Nahen Osten fast alles mit allem zusammenhängt, wird der Fortschritt des Friedensprozesses umso leichter werden, je geringer die Anreize für Teheran werden, Störpotenziale zu nutzen. Auch deshalb ist der direkte Gesprächskanal Washington-Teheran notwendig und überfällig. Wenn wir Teheran die Bombe erfolgreich ausreden wollen, dann muss mit Teheran Tacheles geredet werden, und zwar auch über Fragen der regionalen Sicherheit. Dieser strategische Dialog kann nur von Washington mit Aussicht auf Erfolg angeboten und geführt werden.

Wenn wir uns dann auch noch mit Washington dauerhaft darüber verständigen könnten, dass es in Afghanistan nicht um einen militärischen „Sieg“ im klassischen Sinn gehen kann, dann wären wir einen wichtigen Schritt weiter. Denn dann wäre auch klarer, dass die Verhinderung einer neuen Terrorherrschaft in diesem geplagten Land in erster Linie ein politisches Ziel ist, welches primär mit politischen Mitteln – und nur hilfsweise mit Militäreinsatz – verfolgt werden muss.

Die Dreifachkrise stellt die transatlantische Gemeinschaft hart auf die Probe. Aber sie eröffnet angesichts der Veränderungen in Washington zugleich die Chance auf eine grundlegende Bekräftigung des Westens und seiner Grundwerte. Packen wir diese Chance zu einem transatlantischen Neuanfang an!

Unser Autor Wolfgang Ischinger war Staatssekretär des Auswärtigen Amts und Botschafter in Washington und London. Seit Frühjahr 2008 ist er Vorsitzender der alljährlichen internationalen Münchner Sicherheitskonferenz.

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Wolfgang Ischinger.

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Wolfgang Ischinger

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