zum Hauptinhalt
Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan vor Absolventen der türkischen Polizeiakademie in Ankara. Bei der Abschlusszeremonie der Polizisten ließ Erdogan verlauten, dass die Darstellung der unschuldigen Demonstranten und der aggressiven Staatsgewalt einseitig sei.

© Reuters

EU-Beitrittsverhandlungen der Türkei: Erdogan besteht auf neuem EU-Kapitel

Die Türkei warnt vor dem Verzicht auf ein neues Kapitel bei den EU-Beitrittsverhandlungen. Notfalls könnte sie den politischen Dialog mit Europa unterbrechen. Die EU-Staaten haben jedoch aufgrund der Polizeigewalt im Umgang mit der Protestbewegung Vorbehalte. 

Nach den jüngsten Spannungen zwischen der Türkei und der EU bemüht sich die Bundesregierung um eine einvernehmliche Lösung. Deutschland arbeite an einem Kompromissvorschlag, verlautete am Montag aus deutschen Delegationskreisen beim Treffen der EU-Außenminister in Luxemburg. Bei dem Treffen ging es um die Frage, ob trotz der Polizeigewalt im Umgang mit der Protestbewegung in der Türkei ein neues Kapitel der türkischen EU-Beitrittsverhandlungen eröffnet werden sollte. Die Türkei warnte vor ernsthaften Konsequenzen, falls die EU die angekündigte Eröffnung des Kapitels streichen sollte.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ist nach eigenem Bekunden über die jüngsten Bilder aus der Türkei „erschrocken“. Sie hoffe, „dass der Dialog wieder die Oberhand gewinnt“, sagte sie auf der Jahrestagung der Türkisch-Deutschen Industrie- und Handelskammer am Montag in Berlin. Für die Türkei sei die Entwicklung einer starken Zivilgesellschaft „außerordentlich notwendig“, mahnte sie. „Es sollte nicht als Bedrohung, sondern  es sollte als Bereicherung empfunden werden“, befand Merkel weiter.

Zur Perspektive für einen EU-Beitritt des Landes sagte die Regierungschefin, sie halte sich zwar an geschlossene Verträge. „Allerdings können wir nicht ignorieren, was dort passiert.“ Die wichtigste Frage sei das Ankara-Protokoll – darin verlangt die EU von der Türkei, die Zypern-Frage zu lösen. „Das ist die dauerhafteste Barriere“, unterstrich Merkel. „Andere Probleme kann man sicherlich auf der Zeitachse miteinander bereden.“

Bis dies gelöst sei, sollten Deutschland und die Türkei ihre gegenseitigen Wirtschaftsbeziehungen intensivieren. Das Handelsvolumen zwischen beiden Ländern beläuft sich auf 32 Milliarden Euro, das ist ein Viertel des Volumens mit der gesamten EU. Merkel rief dazu auf, vor allem in Energiefragen enger zusammenzuarbeiten. „Wir hoffen, dass die Türkei den Weg der wirtschaftlichen Öffnung und der gesellschaftlichen Liberalisierung weiter gehen wird.“ Sie sehe noch „große Potenziale“ in der Zusammenarbeit mit dem in den  vergangenen Jahren stark gewachsenen Land. „Die müssen wir nutzen und erschließen.“

Vor Beginn der regierungsfeindlichen Unruhen vor mehr als drei Wochen hatten EU und Türkei prinzipiell vereinbart, bis Ende des Monats das Kapitel 22 der Beitrittsgespräche in Angriff zu nehmen, in dem es um Regionalpolitik geht. Es wäre der erste konkrete Fortschritt der Türkei-Verhandlungen seit drei Jahren. Die Türkei verhandelt seit 2005 mit der EU über einen Beitritt, kommt aber kaum voran. Bisher hat das Land erst 13 der insgesamt 35 Verhandlungskapitel angehen können.

Die Bundesregierung, Österreich und die Niederlande hatten in den vergangenen Tagen wegen des harten Vorgehens der türkischen Polizei gegen Demonstranten neue Vorbehalte gegen die Kapitel-Eröffnung geltend gemacht. Bundesaußenminister Guido Westerwelle bemühte sich am Montag laut Delegationskreisen am Rande des EU-Außenministerrates in Luxemburg, in Kontakten mit anderen EU-Politikern und der Türkei eine Lösung zu finden. Eine Entscheidung soll diese Woche fallen.

Bereitschaft, Krise mit der EU zu beenden

Auch die zuständigen Minister der türkischen Regierung signalisierten die Bereitschaft, die Krise mit der EU zu beenden. EU-Minister Egemen Bagis lud die Botschafter der EU-Länder in Ankara zu einem Treffen ein. Außenminister Ahmet Davutoglu unterstrich das Bekenntnis seines Landes zum EU-Prozess. Innenminister Muammer Güler kündigte ein weiteres Ermittlungsverfahren wegen Gewaltanwendung von Polizisten in der südtürkischen Stadt Antalya an. In Istanbul und Izmir wird bereits gegen mehrere Beamte ermittelt.

Für den Fall einer EU-Entscheidung gegen das neue Kapitel hat sich die türkische Regierung nach Medienberichten mehrere Optionen zurechtgelegt. So könnte der türkische Botschafter bei der EU zu Konsultationen nach Ankara gerufen werden. Auch eine Unterbrechung des politischen Dialogs mit der EU wird als Möglichkeit genannt; das hatte es zuletzt 1997 gegeben.

Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, gegen den sich ein Großteil der Kritik aus der EU und aus der türkischen Protestbewegung richtet, blieb am Montag bei seiner harten Haltung. Es werde versucht, die Demonstranten als unschuldig und die Polizisten als aggressiv darzustellen, sagte er vor Absolventen der türkischen Polizeiakademie in Ankara. „Das Gegenteil ist richtig.“

Erdogan versucht, seine Partei AKP in den Wahlkämpfen vor den türkischen Kommunalwahlen im März und der Präsidentenwahl im Sommer kommenden Jahres als Verteidigerin des Patriotismus und konservativer sozialer Werte zu positionieren.

Im Rahmen dieser Strategie sei er offenbar auch zu Spannungen mit der EU bereit, meint der Politologe Soli Özel von der Istanbuler Kadir-Has-Universität. Özels Kollege Murat Somer von der Koc-Universität verwies gegenüber unserer Zeitung darauf, dass Erdogan mit der kompromisslosen Linie auch auf potenzielle Rivalen innerhalb der AKP ziele, die für bessere Beziehungen mit der EU plädierten.

Doch möglicherweise stößt Erdogans Strategie an ihre Grenzen. Ihsan Dagi, ein angesehener Kolumnist der Zeitung „Zaman“, warnt Erdogan davor, die Eskalation zu übertreiben. Wähler der politischen Mitte seien vor allem an Stabilität interessiert und würden sich von jenen Politikern abwenden, die Stabilität gefährdeten, schrieb Dagi. Nach einer am Montag veröffentlichten Umfrage ist die AKP seit März um 3,6 Prozentpunkte auf 47 Prozent der Wählergunst zurückgefallen. Gleichzeitig verbesserte sich die säkulare Oppositionspartei CHP von 24 auf rund 31 Prozent.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false