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Fahnen im Wind? Das EU-Parlament berät, wie der Türkei eine Richtung vorzugeben ist.

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EU-Parlament berät über die Türkei: Ein Abbruch der Beitrittsgespräche hilft nicht

Erdogan ist nicht die Türkei. Ein Abbruch der EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei wäre ein Verrat an den freiheitlich gesinnten türkischen Bürgern. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Gerd Appenzeller

Wenn sich das Europäische Parlament an diesem Donnerstag bei seiner Sitzung in Straßburg mit der Situation in der Türkei befasst, wird es sich wahrscheinlich mit großer Mehrheit für eine Aussetzung der Beitrittsgespräche aussprechen. Die Konservativen, zu denen auch die deutschen Christdemokraten und Christsozialen gehören, hatten zunächst für einen Abbruch der Gespräche plädiert, werden aber nun wohl auch mit der Majorität der Abgeordneten nur für ein Einfrieren der Kontakte stimmen. Die deutschen, einst von der AfD entsandten, Parlamentarier Hans-Olaf Henkel und Bernd Lucke werden hingegen, wenn sie ihrer Ankündigung treu bleiben, für Abbruch stimmen.

Haben sie nicht recht mit dieser Meinung? Kann es mit der Türkei von Recep Tayyip Erdogan ernsthaft weiter einen diplomatischen Umgang mit dem Ziel geben, diese Türkei als Mitglied in der Europäischen Union aufzunehmen? Wer den zur Beurteilung der Situation entscheidenden Artikel zwei des Vertrages über die Europäische Union liest, muss eigentlich jeden Gedanken an Beitritt des Landes entsetzt von sich weisen, denn dort heißt es: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet“.

Kaum etwas von alledem entspricht der Realität in der heutigen Türkei. Erst am Dienstag wurden per Dekret wieder mehr als 15.000 Staatsbedienstete entlassen. Seit dem niedergeschlagenen Putsch im Sommer hat Erdogan mehr als hunderttausend angebliche – oder tatsächliche – Regierungsgegner aus allen Sektoren der öffentlichen Verwaltung, der Schulen, Universitäten und der Armee festnehmen oder zumindest aus ihren Positionen entfernen lassen. Zeitungen und Rundfunksender wurden geschlossen, Journalisten verhaftet. Wer sich als Kurde zu dieser Volksgruppe bekennt, gerät ohne jede Prüfung der Fakten unter Terrorverdacht. Erdogan möchte die Todesstrafe wieder einführen. Kann man mit diesem Regime reden?

Es geht nicht um Appeasement

Nein, das kann man nicht. Die Illusion aufrecht zu erhalten, zwischen den Werten der Europäischen Gemeinschaft und der Politik Recep Tayyip Erdogans gäbe es irgendwelche Berührungs- oder Anknüpfungspunkte, käme einer klassischen Appeasementpolitik gleich, wäre Beschwichtigung aus Angst vor der Reaktion der anderen Seite. Dieses Zeichen wäre fatal. Aber der endgültige Abbruch der Beitrittsgespräche diente letztlich vor allem jenen als Bestätigung, die seit 20 Jahren nur hinhaltend mit der Türkei über einen Beitritt zur EU verhandeln, weil sie ihn eigentlich überhaupt nicht wollen und, die wahre Absicht verbrämend, „privilegierte Partnerschaft“ nennen, was ein Nein ist.

Wenn Bernd Lucke oder Hans-Olaf Henkel jetzt für Abbruch votieren, geht es ihnen vermutlich weniger um die momentane, katastrophale Menschenrechtssituation in der Türkei als um eine endgültige Blockade des Beitritts eines islamischen Landes. Die Religion, der Islam, kann aber nun wirklich kein Kriterium für eine Beitrittsverweigerung sein. Europa ist eben nicht der Christenclub, als den Erdogan die EU verächtlich bezeichnet, sondern ein auch in Religionsfragen tolerantes Staatenbündnis – oder sollte es zumindest sein. Unter dem Banner des Christentums geschahen in vergangenen Jahrhunderten zu viele Verbrechen, als dass wir uns unter Berufung auf unsere Religion über andere erheben dürften.

Wer die Türkei endgültig aus Europa ausschließt, trifft Millionen von Türken, die Europa zugewandt sind. Er machte ihre Hoffnungen zunichte, Teil einer aufgeklärten, von humanistischen Werten geprägten Weltregion bleiben zu können, der sie sich heute schon zugehörig fühlen. Und er liefert schließlich Erdogan auch die ihm gerade passend kommende Ausrede für die Gründe sich anbahnender wirtschaftlicher Probleme der Türkei. An denen wäre dann die EU schuld, nicht etwa seine eigene, sprunghafte, von Rachegefühlen geprägte Außen- und Militärpolitik. Dass wir aus der Türkei kaum noch freiheitlich gesinnte Stimmen hören, heißt nicht, dass es sie nicht mehr gibt. Sie sind aus Angst verstummt. Nun darf Europa sie nicht auch noch verraten.

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