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Stolze Europäer. Am Freitagabend wurde in Tallinn der Beginn der EU-Ratspräsidentschaft Estlands gefeiert.

© Petras Malukas/AFP

EU-Ratspräsidentschaft: Estland will Europa digital voranbringen

Estland übernimmt übernimmt für die zweite Jahreshälfte die EU-Ratspräsidentschaft. Der baltische Staat ist für Großbritannien eingesprungen - und steht wie kein anderer in Europa für digitale Entwicklung.

Alle sechs Monate wechselt die EU-Ratspräsidentschaft. Estland ist für Großbritannien eingesprungen, das sich aus dieser Verantwortung bereits zurückgezogen hat. Für die zweite Jahreshälfte übernimmt der baltische Staat den Vorsitz. In Gesprächen mit politisch Verantwortlichen in Tallinn ist beständig der Seufzer darüber zu vernehmen, sich bereitgefunden zu haben. Denn gerne hätte Estland die 100-Jahr-Feier seiner Unabhängigkeit 2018 mit dem EU-Ratsvorsitz gekrönt - dem ersten überhaupt für Estland, wie Kersti Kaljulaid, die Staatspräsidentin, im Gespräch mit einer deutschen Journalistengruppe betont.

Die anstehenden Aufgaben sind groß. Die 47-jährige Kaljulaid, die als Wirtschaftswissenschaftlerin zwölf Jahre lang ihr Land beim Europäischen Rechnungshof vertrat, nennt das europäische Grenzregime, die Rolle Europas "in den weniger entwickelten Teilen der Welt" und die "Agenda der open society".

Bei Letzterem, sagt Kaljulaid, "scheinen alle unsere Partner Ratschläge zu digitaler Politik in allen Bereichen zu erwarten". Das ist angesichts der Vorreiterrolle Estlands im Einsatz digitaler Kommunikation in allen Lebensbereichen kaum verwunderlich. Kaljulaid bezeichnet die digitale Freiheit als "fünfte Freiheit Europas". Wir dürften uns von den Herausforderungen nicht abschrecken lassen, bemerkt die Präsidentin und betont , dass die Vorteile der Digitalisierung allen zugutekommen müssen.

Das Ziel: Ein wahrhaft gemeinsamer digitaler Markt - schon 2018

Estland setzt auf eine positive Grundstimmung: "Europa hat nicht versagt", erklärt die Präsidentin. "Wir müssen erkennen, was Europa innerhalb der letzten zehn Jahre erreicht hat." Deutlicher noch hatte der Europa-Direktor der Staatskanzlei, Klen Jäärats, die estnische Leitlinie formuliert: "Wir hoffen, dass wir den Kreislauf von Pessimismus nach dem Brexit durchbrechen können."

Estland sieht die Akzeptanz unterschiedlicher Geschwindigkeiten in der EU als wichtigstes Ergebnis des anstehenden "Denkprozesses". Ohnehin werde die estnische Amtszeit durch die Sommerpause und die deutschen Bundestagswahlen auf effektiv dreieinhalb Monate begrenzt. Immer wieder betont Jäärats die Bedeutung einer handlungsfähigen Bundesregierung. Den "gemeinsamen digitalen Markt" als "ersten wahrhaft gemeinsamen Markt ohne Grenzen" will Estland bereits 2018 verwirklicht sehen.

Die Beziehung zu Russland: kompliziert

Deutlich äußert sich die Staatspräsidentin zum Thema der russischen Bedrohung. Kaljulaid betont, dass die Abschreckung seitens der Nato währen des Kalten Krieges "hundertprozentig funktioniert" habe. Sie bezeichnet ihr Land, das bereits 2,2 Prozent seines Bruttosozialprodukts für Verteidigung ausgibt, das an Nato-Manövern teilnimmt und an diplomatischen Missionen in der ganzen Welt teilgenommen hat, als gut vorbereitet.

Ein Problem mit der russischsprachigen Minderheit in Estland sieht sie nicht. Was sie so nicht sagen kann, wiederholen andere Politiker immer wieder - dass in Estland "kein Russe von Putin befreit werden" wolle. Rund ein Drittel der 1,3 Millionen Esten haben Russisch als ihre Mutter- und Verkehrssprache; Amtssprache jedoch ist allein das Estnische, das auch in den russischsprachigen Gebieten im Osten des Landes die hauptsächliche Sprache im Schulunterricht bildet.

Die Zeit der staatlichen Zugehörigkeit zur Sowjetunion in den Jahren 1940/41 und von 1944 bis 1991 wird generell als "Okkupation" bezeichnet. Eine Frage aus der Journalistenrunde, die den Begriff "ehemalige Sowjetrepublik" verwendet, unterbricht Staatspräsidentin Kaljulaid entschieden: Estland sei keine Sowjetrepublik gewesen, sondern "ein ehemals besetztes europäisches Land".

Als Staat feiert Estland 2018 die Erringung der Unabhängigkeit vor 100 Jahren. Ein zweijähriger Befreiungskrieg gegen die Rote Armee des neuen Sowjetrussland folgte. Erst im Februar 1920 wurde die Unabhängigkeit mit dem Friedensvertrag von Tartu besiegelt. Sie währte zwei Jahrzehnte, bis Estland infolge des Hitler-Stalin-Paktes von den Sowjets erneut und, mit der Unterbrechung der deutschen Besatzung, ein halbes Jahrhundert lang besetzt wurde.

Der Autor besuchte Estland auf Einladung des Deutschen Kulturforums östliches Europa.

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